Date: 19 Mar 1997 00:00:00 +0100 From: ch.fischer-AT-odessa.bonbit.org (Christian Fischer) Subject: *BLAeTTER12/96* Kerne unter sich Dokumente zum Zeitgeschehen aus Blaetter fuer deutsche und internationale Politik 12/96 _Offen mit Deutschland reden, falls man sich traut.."_ Eine franzoesisch-deutsche Debatte um die Waehrungsunion in "Le Monde" und "Liberation" Ein Beitrag des frueheren franzoesischen Ministerpraesidenten Laurent Fabius (PS), der am 7. September 1996 unter der schriller Ueberschrift "Eine letzte Chance, Europa zu retten' in der Pariser Tageszeitung Le Monde' erschien, loeste in diesem Blatt und weit darueber hinaus eine lebhafte Debatte aus. Neben prominenten Franzosen wie dem gaullistischen Parlamentspraesidenten Seguin beteiligten sich daran fruehzeitig auch deutsche Politiker und Wirtschaftsvertreter. Auf ein Le Monde- Interview mit dem Praesidenten der Deutschen Bundesbank antwortete schliesslich der Doyen der franzoesischen Soziologie Pierre Bourdieu in der Tageszeitung "Liberration" mit einerschneidenden Polemik "contre la pensée Tietmeyer" - das Tietmeyerdenken, eine Abwandlung der in Frankreich heiss umstrittenen pensée unique', des einseitig oekonomistischen Diskurses der "mondialisation" alias Globalisierung. Ueberhaupt unterscheidet sich die nachstehend in Auszuegen dokumentierte Kontroverse wohltuend von den offiziellen Eurokommuniques: Man spricht Klartext. (Die Ausfuehrungen von Werner Hoyer, Karl Lamers und Hans Tietmeyer werden im deutschen Original wiedergegeben. Die Uebersetzung besorgte Martin Kopischke.) D.Red. Laurent Fabius: Eine letzte Chance, Europa zu retten Es wird Zeit, zwischen drei Loesungen zu waehlen. Die Zukunft eines Kontinents laesst sich nicht mit verbundenen Augen skizzieren. Entweder man belaesst alles beim jetzigen Zustand. Taub gegenueber der Unzufriedenheit der Arbeitnehmer, stumm gegenueber der Wut der Verbraucher, blind gegenueber der Beunruhigung der Buerger duempelt Europa vor sich hin. Alle sechs Monate stolpert es von einem Gipfel (Thema: fast nichts) zu einer Konferenz (Thema: sehr wenig) und bietet dem Auge der Kameras nur die esoterische Aufregung seiner bei angehaltenen Uhren laufenden " Marathonsitzungen " ... Den Leuten wird es einfach reichen: Sie werden" Nein " sagen und Waehrung, Sicherheit, Regulierung en bloc verwerten. Dann wird die Chance verwirkt sein: Es folgt die traurige Zeit der Rueckzuege. Oder man schreitet in eine zweifelhafte Richtung voran und ueberlaesst das Schicksal der Europaeischen Union denjenigen, die davon traeumen, sie zu ersticken. Paris und Berlins Naehe taeuscht: In Wirklichkeit sind beide leider recht weit von einander entfernt, Ein Europa, das unter dem kalkulierten Druck der britischen Konservativen nicht aufhoert zu wachsen, wurde das Opfer seiner zu empfindlichen, zur Entscheidungsfindung zwischen 20 oder 30 Parteien ungeeigneten Institutionen. Es bliebe ein freihandelndes Niemandsland, ein vom Atlantik bis zum Ural gestreckter, in einem Wettrennen zur wirtschaftlichen Deregulierung gefangener Popanz, der schliesslich seine eigenen sozialen Schutzwaelle einreisst. Es gibt eine letzte Moeglichkeit, Europa zu retten und seine Einwohner zu beruhigen: Statt einer Regierungsstrategie zu folgen, die sich gegen eine verschwundene Inflation richtet, entscheidet sich Frankreich zu einer flexibleren Geldpolitik, einer dynamischeren Wirtschaftspolitik, einer offeneren Lohnpolitik, einer wachsamen Finanzpolitik. Diese neue Politik wuerde von einer merklichen europaeischen Anstrengung getragen: Nach einem ehrhlichen Gespraech mit Deutschland besteht bis zur Regierungskonferenz genug Zeit, diese Anstrengung zu organisieren. Falls man den Mut zur Aussprache findet. Aus: Le Monde', 7.9.1996 (A uszuege). Werner Hoyer: Laurent Fabius irrt sich Am 6.9.1996 hat Laurent Fabius in dieser Zeitung dazu aufgerufen, die Regierungskonferenz der Europaeischen Union als letzte Chance fueir Europa zu nutzen, Laurent Fabius hat recht. Er zeigt in seinem Beitrag drei Alternativen auf, mit denen Frankreich, Deutschland und die ganze Europaeische Union die "letzte Chance" nutzen koennen. Die erste Alternative ist nichts zu tun, und es ist ihm zuzustimmen, dass wir nicht so weitermachen koennen wie bisher. Die zweite Alternative ist eine grosse Freihandelszone vom Atlantik bis zum Ural. Auch hier hat Laurent Fabius recht. Eine solche Entwicklung wuerde einen Rueckschritt gegenueber dem schon Erreichten bedeuten. Ein solches Europa waere nicht in der Lage, die genannten grossen Herausforderungen zu meistem. Als dritte Alternative schlaegt Laurent Fabius fuer Frankreich und in Abstimmung mit Deutschland auch fuer die Europaeische Union Korrekturen in der Geld-, Wirtschafts- und Sozialpolitik vor. Hier jedoch irrt Laurent Fabius gleich mehrfach. Sein Vorschlag, die Geldpolitik zur Ankurbelung der Wirtschaft zu nutzen und in der Inflationsbekaempfung nachzulassen, wurde das Ende der Europaeischen Wirtschafts- und Waehrungsunion bedeuten, bevor sie ueberhaupt begonnen hat. Die WVVU ist nicht Thema der Regierungskonferenz. Die Kriterien und der Zeitplan fuer die VVWU sind in Maastricht 1991 beschlossen worden. Sie gelten uneingeschraenkt weiter. Laurent Fabius irrt auch, wenn er vorschlaegt, die Beschaeftigung als Ziel in den EU-Vertrag aufzunehmen. Die Arbeitslosigkeit von beinahe 20 Millionen Menschen in Europa ist ohne Zweifel zur Zeit die allergroesste Herausforderung fuer die Politik. Die nationalen Regierungen duerfen jedoch nicht die Chance erhalten, die Verantwortung fuer die Schaffung von Arbeitsplaetzen auf die Europaeische Union abzuschieben. Wuerde die Beschaeftigung Vertragsziel, waere genau das der Fall. Die Europaeische Union muss Grenzen und Hindernisse beseitigen, die Wettbewerbsfaehigkeit Europas foerdern. Strukturelle Schwaechen beseitigen und dadurch Arbeitsplaetze schaffen. Europaweite, kreditfinanzierte Beschaeftigungsprogramme, wie sie vielleicht manchen Politikern vorschweben, sind Instrumente aus der Mottenkiste einer ueberholten Konjunkturpolitik. Sie loesen nicht die der Arbeitslosigkeit zugrundeliegenden Probleme, sondern perpetuieren sie. Was Deutschland und Frankreich bei der Regierungskonferenz gemeinsam erreichen muessen, ist deshalb eine vierte Alternative. Wir muessen die Entscheidungs- und Handlungsfaehigkeit der Europaeischen Union dauerhaft sichern. Die Entscheidungsfaehigkeit, d.h. das Abstimmungsverfahren im Rat, die Rotation beim Vorsitz, die Beteiligung des Europaeischen Parlaments und die Groesse und Rolle der Kommission, muss so gestaltet werden, dass die Union demokratisch und transparent auch bei 25 oder 30 Mitgliedstaaten zu schnellen Problemloesungen gelangen kann. Die Handlungsfaehigkeit der Europaeischen Union muss vor allem im Bereich der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik und der Innen- und Justizzusammenarbeit verbessert werden. Um diese Handlungsfaehigkeit zu erreichen, brauchen wir vor allem mehr Flexibilitaet bei der Zusammenarbeit, Flexibilitaet bedeutet, dass Staaten wie Frankreich, Deutschland und andere, die gemeinsam handeln wollen, dies auch tun koennen. Auf diese Weise wird der Integrationsprozess vorangebracht und die Geschwindigkeit des Geleitzugs nicht durch das langsamste Boot bestimmt. Gleichzeitig muessen wir aber auch das Subsidiaritaetsprinzip ernstnehmen. Es darf nicht alles europaeisch geregelt werden, nur weil Buerokraten oder Politiker dies so wollen. Aus: ,Le Monde", 12.9.1996. (Auszuege. Die deutsche Fassung ist ueberschrieben Die Chance fuer Europa nutzen Philippe Séguin: "Warum Laurent Fabius recht hat" Man koennte glauben, unter der Bild- und Tonlawine haetten alle zu lesen verlernt. Denn der Aufruf von Laurent Fabius, die letzte Chance zur Rettung Europas zu ergreifen, bedeutet einen Bruch mit den traditionellen Ansichten der franzoesischen Sozialisten und dem Nachlass Francois Mitterrands. Nur Werner Hoyer hat die Lage richtig eingeschaetzt - zumindest, was die Tragweite des Ereignisses angeht. Nach dem Lamers- Papier wird die franzoesische Europadebatte nun zum zweiten Mal aus Deutschland angeregt. Allerdings nimmt dieser Beitrag vor allem die Form einer Ermahnung an, sich an die vereinbarten Regeln zu halten, in diesem Fall die strikkte Anwendung der Konvergenzkriterien fuer die Waehrungsunion. Es geht eher dar-um, die Diskussion zu ersticken, als sie zu eroeffnen. Diese Nichtzulassung einer Klage ist paradox und, aus meiner Sicht, gefaehrlich. Paradox, weil es widerspruechlich ist, zuzugeben, dass die Europaeische Union stillsteht, um dann als einzigen Ausweg aus der Krise die Beibehaltung deljenigen Entscheidungen anzubieten, die erst zur Krise gefuehrt haben. Widerspruechlich ist es auch, Arbeit und Arbeitslosigkeit zu Problemen zu erklaeren, die fuer die Union zu wichtig seien und daher der Hoheit eben jener Nationalstaaten unterlaegen, die das Lamers-Papier zu leeren, der Vergangenheit angehoerenden Huellen herabgestuft hat. Wir muessen uns frei machen von jeglichem Dogmatismus. Allen sollte klar sein, dass die Waehrungsunion nicht auf der Basis von Missverstaendnissen und sich ueberkreuzenden Hintergedanken ins Leben treten kann. Jede Grundlage fehlt, wenn Deutschland beabsichtigt, an Frankreich fuer sein Zoegern bei der Wiedervereinigung Revanche zu nehmen, waehrend Frankreich seinerseits versucht, Wiedergutmachung dafuer zu erlangen, dass es diese Vereinigung durch ruecklaeufige Wirtschaftsaktivitaet und Arbeitsplatzabbau finanziert hat. Der Versuchung dieses "Luegen-Poker" muss widerstanden werden, indem eine wirkliche Debatte ueber Europas Zukunft eroeffnet wird und indem man geduldig versucht, dem Verstand ueber das Wiederaufleben kollektiver Leidenschaften zum Sieg zu verhelfen. Werner Hoyer unterbreitet ebenso wie Laurent Fabius in seinem Artikel eine Diagnose, ein Ziel und eine Verfahrensweise, Fuer den ersten geht es vor allem darum, den urspruenglichen Kurs ohne Abweichung zu halten. Fuer den zweiten geht es um nichts geringeres als eine neue Politik auf europaeischer Ebene. Im Namen des Verantwortungsprinzips, durch das Max Weber den Staatsrnann definierte, kann nur festgestellt werden, dass man Laurent Fabius recht geben muss. Seine Vorschlaege handeln vom wirklichen Europa, waehrend Werner Hoyer von einem allzu virtuellen Europa spricht, das halb in der Utopie und halb in der Treue zu vergangenen Entscheidungen verankert ist. Ja, es ist mehr als Zeit, zur Wirklichkeit zurueckzukehren und einige Punkte auf die Tagesordnung der Dubliner Konferenz zu setzen: eine flexible Interpretation der Korivergenzkriterien, die Verbindung von Wachstum und Bekaempfung der Arbeitslosigkeit als Ziele der zukuenftigen Europaeischen Zentralbank, die Anbindung der Eurowaehrung an die Waehrungen jener Staaten der Union, die nicht zum urspruenglichen harten Kern gehoeren. Ja, es ist mehr als Zeit, die Beteiligung der Voelker und ihrer gewaehlten Vertreter an der Sanktionierung der beschlossenen Reformen im Sinne jener demokratischen Garantien vorzusehen, die der Karlsruher Gerichtshof zur Einfuehrung der Waehrungsunion verlangt hat. Darum hat Laurent Fabius recht. Der einzige Vorwurf, den man an ihn richten kann, ist zweifellos, sich solange geirrt zu haben, dass er erst so spaet recht hat. Aus: ,Le Monde', 19.9.1996 (Auszuege). * Wortlaut in "Blaetter" 1011994,S.1271-79. Karl Lamers: "Nein Herr Séguin, es gibt keine andere Politik" In seinem Artikel vom 19. September in Le Monde distanziert sich Phillippe Séguin von bestimmten "Missverstaendnissen und Hintergedanken" in Verbindung mit der Waehrungsunion. Seiner Meinung nach neige man dazu, zu glauben, dass" Deutschland Mit dem Euro versuche, an Frankreich fuer sein Zoegern bei der Wiedervereinigung Revanche zu nehmen", und dass "Frankreich Wiedergutmachung dafuer zu erlangen suche, dass es diese Vereinigung durch ruecklaeufige Wirtschaftsaktivitaet und Arbeitsplatzabbau finanziert hat". Ich kann und mag nicht glauben, dass viele Franzosen ernsthaft diese sonderbare Meinung teilen; und ich wundere mich, dass man sie ueberhaupt anspricht. Moechte Frankreich an der Waehrungsunion nur deshalb teilnehmen, um sich fuer die Kosten der Wiedervereiriigung schadlos zu halten und um das zu beenden, was man als die "Herrschaft der Bundesbank" empfindet? Man muss an dieser Stelle auf den tieferen Zweck der Wirtschafts- und Waehrungsunion eingehen, die vor allem ein durchgreifendes Modemisierungsund Gesundungsprogramm unserer Volkswirtschaften ist. Durch die Festlegung auf eine strenge Stabilitaetspolitik haben sich die Mitgliedstaaten der Europaeischen Union verpflichtet, die Schwaechen ihrer Wirtschaftssysteme nicht laenger - wie in der Vergangenheit - mit Schulden, Abwertung und Subventionen zuzudecken. Mit diesen Instrumenten wurden allzu lange die durch die immer schnelleren wirtschaftlichen Veraenderungen geforderten Anpassungen hinausgezoegert. Jetzt wollen wir uns endlich der Wirklichkeit stellen und die notwendigen Reformen in die Wege leiten. Natiirlich ist dieser Spar- und Reformprozess schmerzlich, aber vor allem wegen der Suenden der Vergangenheit, die alle in nationaler Verantwortung liegen. Wuerde der Vorschlag von Philippe Séguin einer weichen Interpretation der Kriterien und einer Neuverhandlung des Maastrichter Vertrages von der franzoesischen Regierung aufgegriffen - wozu gottlob nicht der geringste Verdacht besteht -, dann waeren die Folgen mit absoluter Sicherheit katastrophal. Es gibt keine Patentrezepte zur Ueberwindung der Geissel der Arbeitlosigkeit. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass eine Stabilitaetspolitik und die durch sie erzwungenen Reformen unersetzliche Vorausetzung fuer Wettbewerbsfaehigkeit, Wachstum und damit auch die Grundlage fuer neue Arbeitsplaetze sind. Es gibt auf diesem Weg keine Abkuerzungen; obwohl er noch eine zeitlang hart sein wird, duerfen wir ihn nie mehr verlassen. Durch das Festhalten an den Konvergenzkriterien zeigen wir unsere Entschlossenheit, diesen Weg zu gehen - dies ist auch ihre eigentliche Funktion. Wuerden wir unsere Interpretation des Defizitkriteriums aufweichen, so wuerden die bisherigen Erfolge wieder hinfaellig. Das ist weniger eine Frage der Logik, als vielmehr der Psycho-Logik, denn die Maerkte richten sich mehr noch nach dem, was vorausichtlich sein wird, als nach dem, was im Augenblick ist. Oft frage ich mich, warum man uns immer wieder die gleichen alten Rezepte anbietet, obwohl sie doch nachweislich unserer Wirtschaft geschadet haben. Wenn es nur einen einzigen neuen Ansatz gaebe! Die Politik der Verschuldung ist nicht nur wirkungslos - sie bewirkt bestenfalls ein "Strohfeuer" -, sie ist auch zutiefst unmoralisch, Sie beguenstigt die Befriedigung des aktuellen Bedarfs zu Lasten der kuenftigen Generationen. Sie nimmt von den Schwachen und gibt den Reichen. Warum also haelt man in Frankreich trotz dieser Tatsachen und der eindeutigen Erfahrungen immer noch diese alten Rezepte hoch? Der Weg, der vor uns allen liegt, ist wahrscheinlich fuer Frankreich noch schwerer zu gehen als fuer Deutschland. Ich glaube, dass eine solche Politik ein radikales Umdenken in Frankreich mehr noch als in Deutschland erfordert. Anscheinend ist es fuer die Franzosen ungleich schwieriger als fuer die Deutschen einzusehen, dass der Staat sich darauf beschraenken muss, den allgemeinen Rahmen fuer wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand der Nationen vorzugeben. Der oeffentliche Dienst ist keine Gewaehr fuer Gerechtigkeit und ist in der heutigen Situation kaum noch finanzierbar. Die Politik muss sich nach den supranationalen Realitaeten richten, die sich u.a. in den Erwartungen der internationalen Finanzmaerkte zeigen. All dies ruettelt an den Grundfesten des franzoesischen Staatsbuergertums und zwar wesentlich mehr, als die meisten Deutschen sich vorstellen koennen. Die im Vertrag von Maastricht festgelegten Regeln fuer die Europaeische Waehrungsunion sind ausserdem vom Vorbild Deutschlands beeinflusst und erscheinen vielen Franzosen als Ausdruck eines deutschen " Diktats ". Aber es handelt sich nicht um ein deutsches " Diktat ", sondern um das der supranationalen Realitaet und des globalen Wettbewerbs. Diese Realitaet bietet uns keinerlei Alternative, Wir benoetigen einen oeffentlichen Dialog ueber Europa - darueber stimme ich mit Philippe Ségin ueberein -, aber dafuer brauchen wir keine Neuverhandlung des Maastrichter Vertrages. Die " Beteiligung der Voelker" kann nicht heissen, ihnen die Schwierigkeiten zu ersparen, die sie auf sich nehmen muessen; ihnen etwas vorzugaukeln von einer anderen Politik, die es nicht gibt, kann nicht heissen, ihre Unzufriedenheit als Druck auf eine Aenderung der Politik umzuleiten. Damit wurden wir nur die eigene Schwaeche kaschieren, um zu vermeiden, die Wahrheit sagen zu muessen. Die Wahrheit ist: Wir muessen uns anstrengen. Aus:, Le Monde', 12.10.1996 (Auszuege). Elisabeth Guigou: Der Gaukler vom Palais- Bourbon Phihppe Séguin hat in seinem Beitrag eine Gauklernummer vorgefuehrt, wie sie nur ihm gelingen konnte. Erster Trick: Er behauptet, dass Laurent Fabius und die Sozialisten ihre Meinung geaendert haetten. Tatsaechlich aber ist es der Praesident der Nationalversammlung, der seine Meinung geaendert hat, der heute " Ja " zu einer Waehrungsunion sagt, deren Prinzip er noch gestern ablehnte. Tatsaechlich gibt die Art, in der Frankreich und Deutschland seit 1991 ihre Wirtschaftsbeziehungen gestaltet haben, Anlass zur Sorge. Ab 1993 aber sind es die Regierungen Baladur und Juppé, die die Rezession verschlimmert und das Wachstum erstickt haben, indem sie den Haushalten betraechtliche Belastungen aufgebuerdet haben. Die Fehlentscheidungen der Regierungen Balladur und Juppé wurden nicht von der Waehrungsunion erzwungen, Ganz im Gegenteil: Erst deren Politik steuert uns von der Waehrungsunion weg. Waehrungsunion und Deflation duerfen nicht laenger verwechselt werden. Philippe Séguin und Laurent Fabius sind sich dann einig, eine deutsch-franzoesische Initiative in diese Richtung zur Regierungskonferenz zu verlangen; hier aber greift Philippe Séguins zweiter Trick: Er huetet sich davor, zu unterstreichen, dass eine solche Initiative fehlt, weil Jacques Chirac sie nicht will. Warum laesst Jacques Chirac auf seine Reden zum Sozialen Bruch und zum europaeischen Dritten Weg gegenueber dem entfesselten Liberalismus der USA keine europaeischen Taten folgen? Wuerde Deutschland, wenn Frankreich bei der Konferenz die Ergaenzung des Maastrichter Vertrags beantragt, sich dem versperren? Im Gegensatz zu Philippe Séguin glaube ich das nicht. Werner Hoyers negative Antwort auf Laurent Fabius beweist nichts. Wemer Hoyer ist nicht der Kanzler. Ich behaupte nicht, dass es einfach waere, Helmut Kohl zu ueberzeugen. Ich behaupte, dass es unter einer Bedingung moeglich ist: dass Frankreich einer tiefere politische Integration Europas akzeptiert. Weigert sich Frankreich, von Institutionen zu sprechen und weigert sich Deutschland, von Wachstum und Arbeitsplaetzen zu sprechen, stecken wir in der Sackgasse, Das ist heute der Fall. Aus: , Le Monde', 12.10.1996 (Auszuege). - Das Palais-Bourbon ist Sitz der franzoesischen Nationalversammlung, als deren Praesident Philippe Séguin seit 1995 fungiert. Jean-Marie Messier, Henri Lachmann, Edzard Reuter, Michael Rogowski: Das Bleigewicht der Realzinssaetze Europa, insbesondere Frankreich und Deutschland leiden zur Zeit unter einem Mangel an Wachstum und Zukunftsperspektiven. Wird die gemeinsame Waehrung Europa zu dem bitter benoetigten neuen Atem verhelfen? Wir wuenschen uns von Herzen, dass sie zustande kommt, und das zum vorgesehenen Zeitpunkt, wenn nicht frueher. Aber etwas beunruhigt uns dabei sehr: Wie wird sich die Paritaet des Euro zu den anderen Waehrungen verhalten? Wir sagen es deutlich: Wenn der Euro die heutige Paritaet des Duos D-Mark/Franc zu Dollar, Yen und den suedeuropaeischen Waehrungen uebemimmt, wird er zur Missgeburt werden. Das Duo D-Mark/Franc ist gegenueber den wichtigen Waehrungen deutlich ueberbewertet. Durch diese Ueberbewertung subventionieren wir den amerikanischen und japanischen Aufschwung und naehren in Europa ein anormales, historisch einmalig hohes Niveau an Arbeitslosigkeit. Diese waehrungspolitische "Ungleichheit" ist ein staendiger Anreiz zur Auslagerung unserer Produktionsmittel in andere Laender und entmutigt jedes untemehmerische Denken. Wie koennen wir sicher sein, dass die zukuenftige Paritaet des Euro die richtige ist? Die Rueckkehr zu einer vemuenftigen Paritaet des Duos D- Mark/Franc gegenueber dem Dollar erfordert unbedingt eine erhebliche, gemeinsame Zinssenkung in Deutschland und Frankreich. Sie ist die einzige verstaendliche Botschaft. Aus:,Le Monde", 12.10.1996(Auszuege). Hans Tietmeyer: Die Rigiditaeten an den Arbeitsmaerkten abbauen Frage: Die Einheitswaehrung wird vorbereitet und duerfte am 1. Januar 1999 eingefuehrt werden. Glauben sie, dass dieses Datum wirklich das richtige sein wird? Antwort: Gegenwaertig spricht vieles dafuer, dass der Zeitplan des Vertrages eingehalten wird, jedenfalls von einer begrenzten Gruppe von Laendern. Der Vertrag sieht ja diese Moeglichkeit vor. Ich gehe davon aus, dass, wenn nichts Ueberraschendes passiert, die Waehrungsunion Anfang 1999 beginnt. Aber die endgueltige Entscheidung koennen die Staats- und Regier- ungschefs erst im Fruehjahr 1998 treffen auf der Grundlage der Pruefberichte und der Vorlage der Finanzminister. Frage: In Frankreich mehren sich die Stimmen, die ein Uebergewicht des deutschen Stabilitaetsgedankens in der Waehrungsunion befuerchten. In Deutschland hingegen wird befuerchtet, der Euro kaeme einem Abenteuer ohne gewissen Ausgang gleich. Wo liegt die Wahrheit? Antwort: Der Vertrag hat zunaechst eine Grundentscheidung getroffen, und zwar in Richtung auf Waehrungsstabilitaet als Grundlage fuer den weiteren wirtschaftlichen und politischen Prozess in Europa. Insofern ist es kein Thema, das noch kontrovers sein sollte. Jetzt kommt es darauf an, dass die Voraussetzungen fuer eine stabile Waehrung geschaffen werden, in der Ausgangslage, aber auch fuer die Folgezeit. Frage: Besteht durch die Sparprogramme, die derzeit in Europa im Hinblick auf die Einheitswaehrung durchgefuehrt werden, nicht die Gefahr, dass die Konjunktur gedrosselt wird und es wie man in Frankreich fuerchtet - zu deflationaeren Spannungen kommt? Antwort: Inflation ist nie endgueltig tot. Sie kann immer wieder beginnen, wenn Fehler gemacht werden. Wichtig ist aber, dass das Wachstum bei uns in Deutschland und auch in den meisten europaeischen Laendern gegenwaertig nicht durch die Geldpohtik gehemmt wird. Es ist genuegend Liquiditaet verfuegbar, genuegend Geldvolumen da. Die Zinsen sind so niedrig wie nie zuvor, jedenfalls soweit die Notenbanken darauf Einfluss haben koennen, Ich sehe insofern auch keine Deflationsgefahr. In allen europaeischen Laendern geht es darum, Vorausetzungen fuer ein dauerhaftes Wachstum und Vertrauen fuer die Investoren zu schaffen, indem man die oeffentlichen Haushalte unter Kontrolle bringt, das Steuer- und Abgabenniveau auf ein dauerhaft ertraegliches Mass absenkt, die sozialen Sicherunssysteme reformiert und die Rigiditaeten an den Arbeitsmaerkten abbaut, damit neues Wirtschaftswachstum auch wieder mehr Beschaeftigung schafft. Die Geldpolitik kann hier so gut wie nichts mehr leisten, sie hat die ihr moeglichen Voraussetzungen geschaffen. Frage: Sie sagten kuerzlich in einer Rede, dass der Euro kein "Beschaeftigungsprogramm " waere. Koennte die Einheitswaehrung Ihrer Meinung nach zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit fuehren? Antwort: Man darf nicht Illusionen wecken, als koennten die Strukturprobleme, die ich gerade genannt habe, durch den Euro geloest werden. Wenn wir diese Probleme nicht im Rahmen der nationalen Politikentscheidungen nachhaltig loesen, wird der Euro keine Beschaeftigung schaffen. Im Gegenteil, der Euro wird den Wettbewerb zwischen den Laendern und den Maerkten staerken. Es gibt dann keinen "Airbag" mehr in Fom einer Anpassung des Wechselkurses. Das heisst: Die Wettbewerbsfaehigkeit wird nur bei hinreichender Flexibilitaet am Arbeitsmarkt zurueckgewonnen werden koennen. Wenn aber mehr Flexibilitaet gegeben ist, dann koennte der groessere Euro- Markt sehr wohl dazu beitragen, mehr Wachstum und Beschaeftigung zu schaffen. Aus: "Le Monde", 17.10.1996 (Auszuege). - Die Titelformulierung der Blaetter greift eine Aeusserung des Bundesbankpraesidenten auf (mit der sich Pierre Bourdieu nachstehend auseinandersetzt). Pierre Bourdieu: Wider das "Tietmeyerdenken", fuer einen europaeischen Wohlfahrtsstaat " Le Monde" vom 17. Oktober 1996 praesentiert ein Interview mit Bundesbankpraesident Tietmeyer, den die Zeitung als "Hohepriesterder Deutschen Mark" vorstellt. Zu Recht, hiergeht es tatsaechlich um Religion. Hans Tietmeyer bietet uns ein wunderbares Beispiel der Redekunst, wie sie heute auf den Finanzmaerkten (und anderswo) gepflegt wird, ein Beispiel fuer jene Rhetorik des Euphemismus, die noetig ist, wenn man das Vertrauen der Investoren den Schluessel zum ganzen System gewinnen will, ohne das Misstrauen oder die Verzweiflung der Arbeiter zu wecken, mit denen man trotz allem rechnen muss, wenn man die Wachstumsphase erreichen will, die man ihnen vorgaukelt. Denn von den Arbeitern - und nur von den Arbeitern - wird der Abbau der ,Rigiditaeten an den Arbeitsmaerkten" verlangt. An die Arbeiter ist auch die dumpfe, fast erpresserische Drohung gerichtet, die den Abbau dieses "Rigiditaeten" zur Bedingung dafuer macht, dass "neues Wirtschaftswachstum auch wieder mehr Beschaeftigung schafft." In Klartext: Verzichtet im Namen des Wachstums, das morgen folgen wird, heute auf eure sozialen Errungenschaften. Dass ein derart ausserordentlicher Text beinahe unbemerkt geblieben waere, liegt daran, dass er perfekt dem "Erwartungshorizont" der Mehrheit seiner Leser angepasst ist. Tatsaechlich sind Tietmeyers Worte in aller Munde: dauerhaftes Wachstum, Vertrauen der Investoren, Oeffentliche Haushalte, Soziale Sichenmgssysteme, "Rigiditaeten", Arbeitsmarkt, Flexibilitaet; aber auch Globalisierung, Flexibilisierung, Senkung der Abgabenlast, Wettbewerbsfaehigkeit, Produktivitaet, Deregulierung und so weiter und so fort. Was ist nun das "Tietmeyerdenken"? Zunaechst einmal ein neuer Glaube an den gesetzmaessigen Gang der Geschichte, der auf dem Primat der Produktivkraefte (und der Technik) fusst, das heisst eine Form jenes Oekonomismus, der frueher - und haeufig mit denselben Glaeubigen - unter dem Banner des Marxismus daherkam. Dieser Glaube ist einer Wirtschaftstheorie eigen, die auf der scharfen Trennung von Wirtschaft und Gesellschaft beruht und dabei uebersieht, dass die Marktmechanismen (die sie im uebrigen hypostasiert) sozialen Mechanismen gehorchen, welche in gesellschaftlicher Gewalt ihre Wurzel haben. Daneben besteht es aus einer Anzahl nicht weiter diskutierter Ziele (die implizit in den vermeintlich neutralen Begriffen der Theorie enthalten sind): groesstmoegliches Wachstum, Wettbewerbsfaehigkeit, Produktivitaet; ausserdem einem Menschenbild, das nichts humanistisches an sich hat, das des ueberarbeiteten, berechnenden und karriereorientierten Managers, der sich gelegentlich erlaubt, ueber den "Verlust sozialer Bindungen" und die Einsamkeit der "Modernisierungsverlierer" wohlmeinende Reden zu halten sowie eine Wirtschaftspolitik mit Euphemismen ("Umstrkturierung " statt Massenentlassungen, "Arbeitgeber" statt Untemehmerschaft, "Deregulierung" statt Kapitalismus im Urzustand) zu verhuellen, die im Endeffekt darauf zielt, unter anderen Folgen jene Zivilisationsform zu zerstoeren, die mit dem Entstehen des Staats, dieser entschieden modernen Idee, verbunden ist. Es wird nicht leicht werden, gleichzeitig jenes Vertrauen der Investoren, das Hans Tietmeyer ueber alles andere stellt, und das Vertrauen der Arbeiter, aller Buerger zu erringen. Als Beleg dafuer reicht mir eine Umfrage, die in derselben Ausgabe von "Le Monde" erschienen ist wie das Interview mit Tietmeyer. Fast zwei Drittel der Befragten halten Politiker fuer unfaehig, zuzuhoeren und zu beruecksichtigen, was die Buerger denken; die grosse Mehrheit der Franzosen hegt gegen sie ein tiefes "Misstrauen". Es reicht, diese einfachen Feststellungen neben die Aeusserungen Hans Tietmeyers zu stellen, um deutlich zu erkennen, dass die verschiedenen europaeischen Regierungen alle vor derselben Alternative stehen: Selbstzerstoerung im Bemuehen, das Vertrauen der Finanzmaerkte zu gewinnen, oder Ueberwinden der eigenen Beschraenkungen durch die Arbeit an einem supranationalen Sozialstaat, der in der Lage ist, das Vertrauen des Volks zu erwerben. Dieses ist die einzige moegliche Grundlage einer echten Demokratie, die gleichermassen politisch und wirtschaftlich ist. Aus:, Liberation', Paris, 25. 10. 1996 (Auszuege). ********************************************************************** Contributions: bourdieu-AT-lists.village.virginia.edu Commands: majordomo-AT-lists.village.virginia.edu Requests: bourdieu-approval-AT-lists.village.virginia.edu
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