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Date: 19 Mar 1997 00:00:00 +0100
From: ch.fischer-AT-odessa.bonbit.org (Christian Fischer)
Subject: *BLAeTTER12/96* Kerne unter sich


Dokumente zum Zeitgeschehen
aus
Blaetter fuer deutsche und internationale Politik 12/96

 _Offen mit Deutschland reden, falls man sich traut.."_

Eine franzoesisch-deutsche Debatte um die 
Waehrungsunion
in "Le Monde" und "Liberation"

Ein Beitrag des frueheren franzoesischen 
Ministerpraesidenten Laurent Fabius (PS), der 
am 7. September 1996 unter der schriller 
Ueberschrift "Eine letzte Chance, Europa zu
retten' in der Pariser Tageszeitung Le Monde' 
erschien, loeste in diesem Blatt und weit darueber 
hinaus eine lebhafte Debatte aus.  Neben 
prominenten Franzosen wie dem gaullistischen 
Parlamentspraesidenten Seguin beteiligten sich 
daran fruehzeitig auch deutsche Politiker und 
Wirtschaftsvertreter.  Auf ein Le Monde-
Interview mit dem Praesidenten der Deutschen 
Bundesbank antwortete schliesslich der Doyen 
der franzoesischen Soziologie Pierre Bourdieu in
der Tageszeitung "Liberration" mit 
einerschneidenden Polemik "contre la pensée
Tietmeyer" - das Tietmeyerdenken, eine 
Abwandlung der in Frankreich heiss umstrittenen 
pensée unique', des einseitig oekonomistischen 
Diskurses der "mondialisation" alias
Globalisierung. Ueberhaupt unterscheidet sich 
die nachstehend in Auszuegen dokumentierte 
Kontroverse wohltuend von den offiziellen 
Eurokommuniques: Man spricht Klartext.

(Die Ausfuehrungen von Werner Hoyer, Karl 
Lamers und Hans Tietmeyer werden im 
deutschen Original wiedergegeben.  Die 
Uebersetzung besorgte Martin Kopischke.) 
D.Red.



Laurent Fabius: Eine letzte Chance, Europa zu 
retten

Es wird Zeit, zwischen drei Loesungen zu waehlen.  
Die Zukunft eines Kontinents laesst sich nicht mit 
verbundenen Augen skizzieren.

Entweder man belaesst alles beim jetzigen 
Zustand.  Taub gegenueber der Unzufriedenheit 
der Arbeitnehmer, stumm gegenueber der Wut 
der Verbraucher, blind gegenueber der 
Beunruhigung der Buerger duempelt Europa vor 
sich hin.  Alle sechs Monate stolpert es von 
einem Gipfel (Thema: fast nichts) zu einer 
Konferenz (Thema: sehr wenig) und bietet dem 
Auge der Kameras nur die esoterische 
Aufregung seiner bei angehaltenen Uhren 
laufenden " Marathonsitzungen " ...

Den Leuten wird es einfach reichen: Sie 
werden" Nein " sagen und Waehrung, Sicherheit, 
Regulierung en bloc verwerten.  Dann wird die 
Chance verwirkt sein: Es folgt die traurige Zeit 
der Rueckzuege.

Oder man schreitet in eine zweifelhafte Richtung 
voran und ueberlaesst das Schicksal der 
Europaeischen Union denjenigen, die davon 
traeumen, sie zu ersticken.  Paris  und Berlins 
Naehe taeuscht: In Wirklichkeit sind beide leider 
recht weit von einander entfernt, Ein Europa, 
das unter dem kalkulierten Druck der britischen 
Konservativen nicht aufhoert zu wachsen, wurde 
das Opfer seiner zu empfindlichen, zur 
Entscheidungsfindung zwischen 20 oder 30 
Parteien ungeeigneten Institutionen.  Es bliebe 
ein freihandelndes Niemandsland, ein vom 
Atlantik bis zum Ural gestreckter, in einem 
Wettrennen zur wirtschaftlichen Deregulierung 
gefangener Popanz, der schliesslich seine 
eigenen sozialen Schutzwaelle einreisst.

Es gibt eine letzte Moeglichkeit, Europa zu retten 
und seine Einwohner zu beruhigen: Statt einer 
Regierungsstrategie zu folgen, die sich gegen 
eine verschwundene Inflation richtet, 
entscheidet sich Frankreich zu einer flexibleren 
Geldpolitik, einer dynamischeren 
Wirtschaftspolitik, einer offeneren Lohnpolitik, 
einer wachsamen Finanzpolitik.  Diese neue 
Politik wuerde von einer merklichen europaeischen 
Anstrengung getragen: Nach einem ehrhlichen 
Gespraech mit Deutschland besteht bis zur 
Regierungskonferenz genug Zeit, diese 
Anstrengung zu organisieren.  Falls man den 
Mut zur Aussprache findet.

Aus:	 Le Monde', 7.9.1996 (A uszuege).



Werner Hoyer: Laurent Fabius irrt sich

Am 6.9.1996 hat Laurent Fabius in dieser 
Zeitung dazu aufgerufen, die 
Regierungskonferenz der Europaeischen Union 
als letzte Chance fueir Europa zu nutzen, Laurent 
Fabius hat recht.

Er zeigt in seinem Beitrag drei Alternativen auf, 
mit denen Frankreich, Deutschland und die 
ganze Europaeische Union die "letzte Chance" 
nutzen koennen.  Die erste Alternative ist nichts 
zu tun, und es ist ihm zuzustimmen, dass wir 
nicht so weitermachen koennen wie bisher.  Die 
zweite Alternative ist eine grosse 
Freihandelszone vom Atlantik bis zum Ural.  
Auch hier hat Laurent Fabius recht.  Eine solche 
Entwicklung wuerde einen Rueckschritt gegenueber 
dem schon Erreichten bedeuten.  Ein solches 
Europa waere nicht in der Lage, die genannten 
grossen Herausforderungen zu meistem.

Als dritte Alternative schlaegt Laurent Fabius fuer 
Frankreich und in Abstimmung mit Deutschland 
auch fuer die Europaeische Union Korrekturen in 
der Geld-, Wirtschafts- und Sozialpolitik vor.  
Hier jedoch irrt Laurent Fabius gleich mehrfach.  
Sein Vorschlag, die Geldpolitik zur Ankurbelung 
der Wirtschaft zu nutzen und in der 
Inflationsbekaempfung nachzulassen, wurde das 
Ende der Europaeischen Wirtschafts- und 
Waehrungsunion bedeuten, bevor sie ueberhaupt 
begonnen hat.  Die WVVU ist nicht Thema der 
Regierungskonferenz.  Die Kriterien und der 
Zeitplan fuer die VVWU sind in Maastricht 1991 
beschlossen worden.  Sie gelten 
uneingeschraenkt weiter.

Laurent Fabius irrt auch, wenn er vorschlaegt, 
die Beschaeftigung als Ziel in den EU-Vertrag 
aufzunehmen.  Die Arbeitslosigkeit von beinahe 
20 Millionen Menschen in Europa ist ohne 
Zweifel zur Zeit die allergroesste Herausforderung 
fuer die Politik.  Die nationalen Regierungen 
duerfen jedoch nicht die Chance erhalten, die 
Verantwortung fuer die Schaffung von 
Arbeitsplaetzen auf die Europaeische Union 
abzuschieben.  Wuerde die Beschaeftigung 
Vertragsziel, waere genau das der Fall.  Die 
Europaeische Union muss Grenzen und 
Hindernisse beseitigen, die 
Wettbewerbsfaehigkeit Europas foerdern.  
Strukturelle Schwaechen beseitigen und dadurch 
Arbeitsplaetze schaffen.  Europaweite, 
kreditfinanzierte Beschaeftigungsprogramme, wie 
sie vielleicht manchen Politikern vorschweben, 
sind Instrumente aus der Mottenkiste einer 
ueberholten Konjunkturpolitik.  Sie loesen nicht die 
der Arbeitslosigkeit zugrundeliegenden 
Probleme, sondern perpetuieren sie.

Was Deutschland und Frankreich bei der 
Regierungskonferenz gemeinsam erreichen 
muessen, ist deshalb eine vierte Alternative.  Wir 
muessen die Entscheidungs- und 
Handlungsfaehigkeit der Europaeischen Union 
dauerhaft sichern.  Die Entscheidungsfaehigkeit, 
d.h. das Abstimmungsverfahren im Rat, die 
Rotation beim Vorsitz, die Beteiligung des 
Europaeischen Parlaments und die Groesse und 
Rolle der Kommission, muss so gestaltet 
werden, dass die Union demokratisch und 
transparent auch bei 25 oder 30 Mitgliedstaaten 
zu schnellen Problemloesungen gelangen kann.

Die Handlungsfaehigkeit der Europaeischen 
Union muss vor allem im Bereich der 
Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik 
und der Innen- und Justizzusammenarbeit 
verbessert werden.

Um diese Handlungsfaehigkeit zu erreichen, 
brauchen wir vor allem mehr Flexibilitaet bei der 
Zusammenarbeit, Flexibilitaet bedeutet, dass 
Staaten wie Frankreich, Deutschland und 
andere, die gemeinsam handeln wollen, dies 
auch tun koennen.  Auf diese Weise wird der 
Integrationsprozess vorangebracht und die 
Geschwindigkeit des Geleitzugs nicht durch das 
langsamste Boot bestimmt.  Gleichzeitig 
muessen wir aber auch das Subsidiaritaetsprinzip 
ernstnehmen.  Es darf nicht alles europaeisch 
geregelt werden, nur weil Buerokraten oder 
Politiker dies so wollen.

Aus: ,Le Monde", 12.9.1996. (Auszuege.  Die 
deutsche Fassung ist ueberschrieben Die 
Chance fuer Europa nutzen



Philippe Séguin: "Warum Laurent Fabius recht 
hat"

Man koennte glauben, unter der Bild- und 
Tonlawine haetten alle zu lesen verlernt.  Denn 
der Aufruf von Laurent Fabius, die letzte Chance 
zur Rettung Europas zu ergreifen, bedeutet 
einen Bruch mit den traditionellen Ansichten der 
franzoesischen Sozialisten und dem Nachlass 
Francois Mitterrands.
Nur Werner Hoyer hat die Lage richtig 
eingeschaetzt - zumindest, was die Tragweite 
des Ereignisses angeht.  Nach dem Lamers-
Papier wird die franzoesische Europadebatte nun 
zum zweiten Mal aus Deutschland angeregt.  
Allerdings nimmt dieser Beitrag vor allem die 
Form einer Ermahnung an, sich an die 
vereinbarten Regeln zu halten, in diesem Fall 
die strikkte Anwendung der Konvergenzkriterien 
fuer die Waehrungsunion.  Es geht eher dar-um, 
die Diskussion zu ersticken, als sie zu eroeffnen.

Diese Nichtzulassung einer Klage ist paradox 
und, aus meiner Sicht, gefaehrlich.  Paradox, weil 
es widerspruechlich ist, zuzugeben, dass die 
Europaeische Union stillsteht, um dann als 
einzigen Ausweg aus der Krise die Beibehaltung 
deljenigen Entscheidungen anzubieten, die erst 
zur Krise gefuehrt haben.

Widerspruechlich ist es auch, Arbeit und 
Arbeitslosigkeit zu Problemen zu erklaeren, die 
fuer die Union zu wichtig seien und daher der 
Hoheit eben jener Nationalstaaten unterlaegen, 
die das Lamers-Papier zu leeren, der 
Vergangenheit angehoerenden Huellen 
herabgestuft hat.

Wir muessen uns frei machen von jeglichem 
Dogmatismus. Allen sollte klar sein, dass die 
Waehrungsunion nicht auf der Basis von 
Missverstaendnissen und sich ueberkreuzenden 
Hintergedanken ins Leben treten kann.  Jede 
Grundlage fehlt, wenn Deutschland beabsichtigt, 
an Frankreich fuer sein Zoegern bei der 
Wiedervereinigung Revanche zu nehmen, 
waehrend Frankreich seinerseits versucht, 
Wiedergutmachung dafuer zu erlangen, dass es 
diese Vereinigung durch ruecklaeufige 
Wirtschaftsaktivitaet und Arbeitsplatzabbau 
finanziert hat.

Der Versuchung dieses "Luegen-Poker" muss 
widerstanden werden, indem eine wirkliche 
Debatte ueber Europas Zukunft eroeffnet wird und 
indem man geduldig versucht, dem Verstand 
ueber das Wiederaufleben kollektiver 
Leidenschaften zum Sieg zu verhelfen.

Werner Hoyer unterbreitet ebenso wie Laurent 
Fabius in seinem Artikel eine Diagnose, ein Ziel 
und eine Verfahrensweise, Fuer den ersten geht 
es vor allem darum, den urspruenglichen Kurs 
ohne Abweichung zu halten.  Fuer den zweiten 
geht es um nichts geringeres als eine neue 
Politik auf europaeischer Ebene.

Im Namen des Verantwortungsprinzips, durch 
das Max Weber den Staatsrnann definierte, 
kann nur festgestellt werden, dass man Laurent 
Fabius recht geben muss.  Seine Vorschlaege 
handeln vom wirklichen Europa, waehrend 
Werner Hoyer von einem allzu virtuellen Europa 
spricht, das halb in der Utopie und halb in der 
Treue zu vergangenen Entscheidungen 
verankert ist.

Ja, es ist mehr als Zeit, zur Wirklichkeit 
zurueckzukehren und einige Punkte auf die 
Tagesordnung der Dubliner Konferenz zu 
setzen: eine flexible Interpretation der 
Korivergenzkriterien, die Verbindung von 
Wachstum und Bekaempfung der Arbeitslosigkeit 
als Ziele der zukuenftigen Europaeischen 
Zentralbank, die Anbindung der Eurowaehrung 
an die Waehrungen jener Staaten der Union, die 
nicht zum urspruenglichen harten Kern gehoeren.

Ja, es ist mehr als Zeit, die Beteiligung der 
Voelker und ihrer gewaehlten Vertreter an der 
Sanktionierung der beschlossenen Reformen im 
Sinne jener demokratischen Garantien 
vorzusehen, die der Karlsruher Gerichtshof zur 
Einfuehrung der Waehrungsunion verlangt hat.

Darum hat Laurent Fabius recht.  Der einzige 
Vorwurf, den man an ihn richten kann, ist 
zweifellos, sich solange geirrt zu haben, dass er 
erst so spaet recht hat.

Aus: ,Le Monde', 19.9.1996 (Auszuege).








* Wortlaut in "Blaetter" 1011994,S.1271-79.



Karl Lamers: "Nein Herr Séguin, es gibt keine 
andere Politik"

In seinem Artikel vom 19.  September in Le 
Monde distanziert sich Phillippe Séguin von 
bestimmten "Missverstaendnissen und 
Hintergedanken" in Verbindung mit der 
Waehrungsunion.  Seiner Meinung nach neige 
man dazu, zu glauben, dass" Deutschland Mit 
dem Euro versuche, an Frankreich fuer sein 
Zoegern bei der Wiedervereinigung Revanche zu 
nehmen", und dass "Frankreich 
Wiedergutmachung dafuer zu erlangen suche, 
dass es diese Vereinigung durch ruecklaeufige 
Wirtschaftsaktivitaet und Arbeitsplatzabbau 
finanziert hat".  Ich kann und mag nicht glauben, 
dass viele Franzosen ernsthaft diese sonderbare 
Meinung teilen; und ich wundere mich, dass man 
sie ueberhaupt anspricht.

Moechte Frankreich an der Waehrungsunion nur 
deshalb teilnehmen, um sich fuer die Kosten der 
Wiedervereiriigung schadlos zu halten und um 
das zu beenden, was man als die "Herrschaft 
der Bundesbank" empfindet?  Man muss an 
dieser Stelle auf den tieferen Zweck der 
Wirtschafts- und Waehrungsunion eingehen, die 
vor allem ein durchgreifendes 
Modemisierungsund Gesundungsprogramm 
unserer Volkswirtschaften ist.  Durch die 
Festlegung auf eine strenge Stabilitaetspolitik 
haben sich die Mitgliedstaaten der 
Europaeischen Union verpflichtet, die Schwaechen 
ihrer Wirtschaftssysteme nicht laenger - wie in 
der Vergangenheit - mit Schulden, Abwertung 
und Subventionen zuzudecken.  Mit diesen 
Instrumenten wurden allzu lange die durch die 
immer schnelleren wirtschaftlichen 
Veraenderungen geforderten Anpassungen 
hinausgezoegert.  Jetzt wollen wir uns endlich der 
Wirklichkeit stellen und die notwendigen 
Reformen in die Wege leiten.  Natiirlich ist 
dieser Spar- und Reformprozess schmerzlich, 
aber vor allem wegen der Suenden der 
Vergangenheit, die alle in nationaler 
Verantwortung liegen.

Wuerde der Vorschlag von Philippe Séguin 
einer weichen Interpretation der Kriterien und 
einer Neuverhandlung des Maastrichter 
Vertrages von der franzoesischen Regierung 
aufgegriffen - wozu gottlob nicht der geringste 
Verdacht besteht -, dann waeren die Folgen mit 
absoluter Sicherheit katastrophal.

Es gibt keine Patentrezepte zur Ueberwindung 
der Geissel der Arbeitlosigkeit.  Die Erfahrung 
zeigt jedoch, dass eine Stabilitaetspolitik und die 
durch sie erzwungenen Reformen unersetzliche 
Vorausetzung fuer Wettbewerbsfaehigkeit, 
Wachstum und damit auch die Grundlage fuer 
neue Arbeitsplaetze sind.  Es gibt auf diesem 
Weg keine Abkuerzungen; obwohl er noch eine 
zeitlang hart sein wird, duerfen wir ihn nie mehr 
verlassen.  Durch das Festhalten an den 
Konvergenzkriterien zeigen wir unsere 
Entschlossenheit, diesen Weg zu gehen - dies 
ist auch ihre eigentliche Funktion.

Wuerden wir unsere Interpretation des 
Defizitkriteriums aufweichen, so wuerden die 
bisherigen Erfolge wieder hinfaellig.  Das ist 
weniger eine Frage der Logik, als vielmehr der 
Psycho-Logik, denn die Maerkte richten sich 
mehr noch nach dem, was vorausichtlich sein 
wird, als nach dem, was im Augenblick ist.

Oft frage ich mich, warum man uns immer 
wieder die gleichen alten Rezepte anbietet, 
obwohl sie doch nachweislich unserer 
Wirtschaft geschadet haben.  Wenn es nur 
einen einzigen neuen Ansatz gaebe!  Die Politik 
der Verschuldung ist nicht nur wirkungslos - sie 
bewirkt bestenfalls ein "Strohfeuer" -, sie ist 
auch zutiefst unmoralisch, Sie beguenstigt die 
Befriedigung des aktuellen Bedarfs zu Lasten 
der kuenftigen Generationen.  Sie nimmt von den 
Schwachen und gibt den Reichen.

Warum also haelt man in Frankreich trotz dieser 
Tatsachen und der eindeutigen Erfahrungen 
immer noch diese alten Rezepte hoch?  Der 
Weg, der vor uns allen liegt, ist wahrscheinlich 
fuer Frankreich noch schwerer zu gehen als fuer 
Deutschland.  Ich glaube, dass eine solche 
Politik ein radikales Umdenken in Frankreich 
mehr noch als in Deutschland erfordert.  
Anscheinend ist es fuer die Franzosen ungleich 
schwieriger als fuer die Deutschen einzusehen, 
dass der Staat sich darauf beschraenken muss, 
den allgemeinen Rahmen fuer wirtschaftliche 
Entwicklung und Wohlstand der Nationen 
vorzugeben.  Der oeffentliche Dienst ist keine 
Gewaehr fuer Gerechtigkeit und ist in der heutigen 
Situation kaum noch finanzierbar.  Die Politik 
muss sich nach den supranationalen Realitaeten 
richten, die sich u.a. in den Erwartungen der 
internationalen Finanzmaerkte zeigen.  All dies 
ruettelt an den Grundfesten des franzoesischen 
Staatsbuergertums und zwar wesentlich mehr, 
als die meisten Deutschen sich vorstellen 
koennen.

Die im Vertrag von Maastricht festgelegten 
Regeln fuer die Europaeische Waehrungsunion 
sind ausserdem vom Vorbild Deutschlands 
beeinflusst und erscheinen vielen Franzosen als 
Ausdruck eines deutschen " Diktats ". Aber es 
handelt sich nicht um ein deutsches " Diktat ", 
sondern um das der supranationalen Realitaet 
und des globalen Wettbewerbs.  Diese Realitaet 
bietet uns keinerlei Alternative, Wir benoetigen 
einen oeffentlichen Dialog ueber Europa - darueber 
stimme ich mit Philippe Ségin ueberein -, aber 
dafuer brauchen wir keine Neuverhandlung des 
Maastrichter Vertrages.  Die " Beteiligung der 
Voelker" kann nicht heissen, ihnen die 
Schwierigkeiten zu ersparen, die sie auf sich 
nehmen muessen; ihnen etwas vorzugaukeln von 
einer anderen Politik, die es nicht gibt, kann 
nicht heissen, ihre Unzufriedenheit als Druck auf 
eine Aenderung der Politik umzuleiten.  Damit 
wurden wir nur die eigene Schwaeche 
kaschieren, um zu vermeiden, die Wahrheit 
sagen zu muessen.  Die Wahrheit ist: Wir 
muessen uns anstrengen.

Aus:, Le Monde', 12.10.1996 (Auszuege).





Elisabeth Guigou: Der Gaukler vom Palais-
Bourbon

Phihppe Séguin hat in seinem Beitrag eine 
Gauklernummer vorgefuehrt, wie sie nur ihm 
gelingen konnte.  Erster Trick: Er behauptet, 
dass Laurent Fabius und die Sozialisten ihre 
Meinung geaendert haetten.  Tatsaechlich aber ist 
es der Praesident der Nationalversammlung, der 
seine Meinung geaendert hat, der heute " Ja " zu 
einer Waehrungsunion sagt, deren Prinzip er 
noch gestern ablehnte.

Tatsaechlich gibt die Art, in der Frankreich und 
Deutschland seit 1991 ihre 
Wirtschaftsbeziehungen gestaltet haben, Anlass 
zur Sorge.

Ab 1993 aber sind es die Regierungen Baladur 
und Juppé, die die Rezession verschlimmert 
und das Wachstum erstickt haben, indem sie 
den Haushalten betraechtliche Belastungen 
aufgebuerdet haben.

Die Fehlentscheidungen der Regierungen 
Balladur und Juppé wurden nicht von der 
Waehrungsunion erzwungen, Ganz im Gegenteil: 
Erst deren Politik steuert uns von der 
Waehrungsunion weg. Waehrungsunion und 
Deflation duerfen nicht laenger verwechselt 
werden.  Philippe Séguin und Laurent Fabius 
sind sich dann einig, eine deutsch-franzoesische 
Initiative in diese Richtung zur 
Regierungskonferenz zu verlangen; hier aber 
greift Philippe Séguins zweiter Trick: Er huetet 
sich davor, zu unterstreichen, dass eine solche 
Initiative fehlt, weil Jacques Chirac sie nicht will.

Warum laesst Jacques Chirac auf seine Reden 
zum Sozialen Bruch und zum europaeischen 
Dritten Weg gegenueber dem entfesselten 
Liberalismus der USA keine europaeischen 
Taten folgen?  Wuerde Deutschland, wenn 
Frankreich bei der Konferenz die Ergaenzung des 
Maastrichter Vertrags beantragt, sich dem 
versperren?  Im Gegensatz zu Philippe Séguin 
glaube ich das nicht.  Werner Hoyers negative 
Antwort auf Laurent Fabius beweist nichts.  
Wemer Hoyer ist nicht der Kanzler.

Ich behaupte nicht, dass es einfach waere, 
Helmut Kohl zu ueberzeugen.  Ich behaupte, dass 
es unter einer Bedingung moeglich ist: dass 
Frankreich einer tiefere politische Integration 
Europas akzeptiert.

Weigert sich Frankreich, von Institutionen zu 
sprechen und weigert sich Deutschland, von 
Wachstum und Arbeitsplaetzen zu sprechen, 
stecken wir in der Sackgasse, Das ist heute der 
Fall.

Aus:	, Le Monde', 12.10.1996 (Auszuege). - Das 
Palais-Bourbon ist Sitz der franzoesischen 
Nationalversammlung, als deren Praesident 
Philippe Séguin seit 1995 fungiert.


Jean-Marie Messier, Henri Lachmann, Edzard 
Reuter, Michael Rogowski:
Das Bleigewicht der Realzinssaetze

Europa, insbesondere Frankreich und 
Deutschland leiden zur Zeit unter einem Mangel 
an Wachstum und Zukunftsperspektiven.

Wird die gemeinsame Waehrung Europa zu 
dem bitter benoetigten neuen Atem verhelfen?  
Wir wuenschen uns von Herzen, dass sie 
zustande kommt, und das zum vorgesehenen 
Zeitpunkt, wenn nicht frueher.  Aber etwas 
beunruhigt uns dabei sehr: Wie wird sich die 
Paritaet des Euro zu den anderen Waehrungen 
verhalten?

Wir sagen es deutlich: Wenn der Euro die 
heutige Paritaet des Duos D-Mark/Franc zu 
Dollar, Yen und den suedeuropaeischen 
Waehrungen uebemimmt, wird er zur Missgeburt 
werden.

Das Duo D-Mark/Franc ist gegenueber den 
wichtigen Waehrungen deutlich ueberbewertet.
Durch diese Ueberbewertung subventionieren 
wir den amerikanischen und japanischen 
Aufschwung und naehren in Europa ein 
anormales, historisch einmalig hohes Niveau an 
Arbeitslosigkeit.  Diese waehrungspolitische 
"Ungleichheit" ist ein staendiger Anreiz zur 
Auslagerung unserer Produktionsmittel in 
andere Laender und entmutigt jedes 
untemehmerische Denken.

Wie koennen wir sicher sein, dass die zukuenftige 
Paritaet des Euro die richtige ist?  Die Rueckkehr 
zu einer vemuenftigen Paritaet des Duos D-
Mark/Franc gegenueber dem Dollar erfordert 
unbedingt eine erhebliche, gemeinsame 
Zinssenkung in Deutschland und Frankreich.  
Sie ist die einzige verstaendliche Botschaft.

Aus:,Le Monde", 12.10.1996(Auszuege).



Hans Tietmeyer: Die Rigiditaeten an den 
Arbeitsmaerkten abbauen

Frage: Die Einheitswaehrung wird vorbereitet 
und duerfte am 1. Januar 1999 eingefuehrt 
werden.  Glauben sie, dass dieses Datum 
wirklich das richtige sein wird?

Antwort: Gegenwaertig spricht vieles dafuer, dass 
der Zeitplan des Vertrages eingehalten wird, 
jedenfalls von einer begrenzten Gruppe von 
Laendern.  Der Vertrag sieht ja diese Moeglichkeit 
vor.  Ich gehe davon aus, dass, wenn nichts 
Ueberraschendes passiert, die Waehrungsunion 
Anfang 1999 beginnt.  Aber die endgueltige 
Entscheidung koennen die Staats- und Regier-
ungschefs erst im Fruehjahr 1998 treffen auf der 
Grundlage der Pruefberichte und der Vorlage der 
Finanzminister.

Frage: In Frankreich mehren sich die Stimmen, 
die ein Uebergewicht des deutschen 
Stabilitaetsgedankens in der Waehrungsunion 
befuerchten.  In Deutschland hingegen wird 
befuerchtet, der Euro kaeme einem Abenteuer 
ohne gewissen Ausgang gleich.  Wo liegt die 
Wahrheit?

Antwort:	Der Vertrag hat zunaechst eine 
Grundentscheidung getroffen, und zwar in 
Richtung auf Waehrungsstabilitaet als Grundlage 
fuer den weiteren wirtschaftlichen und politischen 
Prozess in Europa.  Insofern ist es kein Thema, 
das noch kontrovers sein sollte.  Jetzt kommt es 
darauf an, dass die Voraussetzungen fuer eine 
stabile Waehrung geschaffen werden, in der 
Ausgangslage, aber auch fuer die Folgezeit.

Frage:	Besteht durch die Sparprogramme, 
die derzeit in Europa im Hinblick auf die 
Einheitswaehrung durchgefuehrt werden, nicht die 
Gefahr, dass die Konjunktur gedrosselt wird und 
es wie man in Frankreich fuerchtet - zu 
deflationaeren Spannungen kommt?

Antwort:	Inflation ist nie endgueltig tot.  Sie 
kann immer wieder beginnen, wenn Fehler 
gemacht werden.  Wichtig ist aber, dass das 
Wachstum bei uns in Deutschland und auch in 
den meisten europaeischen Laendern gegenwaertig 
nicht durch die Geldpohtik gehemmt wird.  Es ist 
genuegend Liquiditaet verfuegbar, genuegend 
Geldvolumen da.  Die Zinsen sind so niedrig wie 
nie zuvor, jedenfalls soweit die Notenbanken 
darauf Einfluss haben koennen, Ich sehe insofern 
auch keine Deflationsgefahr.  In allen 
europaeischen Laendern geht es darum, 
Vorausetzungen fuer ein dauerhaftes Wachstum 
und Vertrauen fuer die Investoren zu schaffen, 
indem man die oeffentlichen Haushalte unter 
Kontrolle bringt, das Steuer- und 
Abgabenniveau auf ein dauerhaft ertraegliches 
Mass absenkt, die sozialen Sicherunssysteme 
reformiert und die Rigiditaeten an den 
Arbeitsmaerkten abbaut, damit neues 
Wirtschaftswachstum auch wieder mehr 
Beschaeftigung schafft.  Die Geldpolitik kann hier 
so gut wie nichts mehr leisten, sie hat die ihr 
moeglichen Voraussetzungen geschaffen.

Frage: Sie sagten kuerzlich in einer Rede, dass 
der Euro kein "Beschaeftigungsprogramm " waere. 
Koennte die Einheitswaehrung Ihrer Meinung nach 
zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit fuehren?

Antwort: Man darf nicht Illusionen wecken, als 
koennten die Strukturprobleme, die ich gerade 
genannt habe, durch den Euro geloest werden.  
Wenn wir diese Probleme nicht im Rahmen der 
nationalen Politikentscheidungen nachhaltig 
loesen, wird der Euro keine Beschaeftigung 
schaffen.  Im Gegenteil, der Euro wird den 
Wettbewerb zwischen den Laendern und den 
Maerkten staerken.  Es gibt dann keinen "Airbag" 
mehr in Fom einer Anpassung des 
Wechselkurses.  Das heisst: Die 
Wettbewerbsfaehigkeit wird nur bei hinreichender 
Flexibilitaet am Arbeitsmarkt zurueckgewonnen 
werden koennen.  Wenn aber mehr Flexibilitaet 
gegeben ist, dann koennte der groessere Euro-
Markt sehr wohl dazu beitragen, mehr 
Wachstum und Beschaeftigung zu schaffen.

Aus:	"Le Monde", 17.10.1996 (Auszuege). - Die 
Titelformulierung der Blaetter greift eine 
Aeusserung des Bundesbankpraesidenten auf (mit 
der sich Pierre Bourdieu nachstehend 
auseinandersetzt).



Pierre Bourdieu: Wider das "Tietmeyerdenken", 
fuer einen europaeischen Wohlfahrtsstaat

" Le Monde" vom 17.  Oktober 1996 praesentiert 
ein Interview mit Bundesbankpraesident 
Tietmeyer, den die Zeitung als "Hohepriesterder 
Deutschen Mark" vorstellt. Zu Recht, hiergeht es 
tatsaechlich um Religion.

Hans Tietmeyer bietet uns ein wunderbares 
Beispiel der Redekunst, wie sie heute auf den 
Finanzmaerkten (und anderswo) gepflegt wird, 
ein Beispiel fuer jene Rhetorik des 
Euphemismus, die noetig ist, wenn man das 
Vertrauen der Investoren den Schluessel zum 
ganzen System gewinnen will, ohne das 
Misstrauen oder die Verzweiflung der Arbeiter zu 
wecken, mit denen man trotz allem rechnen 
muss, wenn man die Wachstumsphase 
erreichen will, die man ihnen vorgaukelt.

Denn von den Arbeitern - und nur von den 
Arbeitern - wird der Abbau der ,Rigiditaeten an 
den Arbeitsmaerkten" verlangt.  An die Arbeiter 
ist auch die dumpfe, fast erpresserische 
Drohung gerichtet, die den Abbau dieses 
"Rigiditaeten" zur Bedingung dafuer macht, dass 
"neues Wirtschaftswachstum auch wieder mehr 
Beschaeftigung schafft." In Klartext: Verzichtet im 
Namen des Wachstums, das morgen folgen 
wird, heute auf eure sozialen Errungenschaften.

Dass ein derart ausserordentlicher Text beinahe 
unbemerkt geblieben waere, liegt daran, dass er 
perfekt dem "Erwartungshorizont" der Mehrheit 
seiner Leser angepasst ist.  Tatsaechlich sind 
Tietmeyers Worte in aller Munde: dauerhaftes 
Wachstum, Vertrauen der Investoren, 
Oeffentliche Haushalte, Soziale 
Sichenmgssysteme, "Rigiditaeten", Arbeitsmarkt, 
Flexibilitaet; aber auch Globalisierung, 
Flexibilisierung, Senkung der Abgabenlast, 
Wettbewerbsfaehigkeit, Produktivitaet, 
Deregulierung und so weiter und so fort.

Was ist nun das "Tietmeyerdenken"?  Zunaechst 
einmal ein neuer Glaube an den gesetzmaessigen 
Gang der Geschichte, der auf dem Primat der 
Produktivkraefte (und der Technik) fusst, das heisst 
eine Form jenes Oekonomismus, der frueher - und 
haeufig mit denselben Glaeubigen - unter dem 
Banner des Marxismus daherkam.  Dieser 
Glaube ist einer Wirtschaftstheorie eigen, die 
auf der scharfen Trennung von Wirtschaft und 
Gesellschaft beruht und dabei uebersieht, dass 
die Marktmechanismen (die sie im uebrigen 
hypostasiert) sozialen Mechanismen gehorchen, 
welche in gesellschaftlicher Gewalt ihre Wurzel 
haben.  Daneben besteht es aus einer Anzahl 
nicht weiter diskutierter Ziele (die implizit in den 
vermeintlich neutralen Begriffen der Theorie 
enthalten sind): groesstmoegliches Wachstum, 
Wettbewerbsfaehigkeit, Produktivitaet; ausserdem 
einem Menschenbild, das nichts humanistisches 
an sich hat, das des ueberarbeiteten, 
berechnenden und karriereorientierten 
Managers, der sich gelegentlich erlaubt, ueber 
den "Verlust sozialer Bindungen" und die 
Einsamkeit der "Modernisierungsverlierer" 
wohlmeinende Reden zu halten sowie eine 
Wirtschaftspolitik mit Euphemismen 
("Umstrkturierung " statt Massenentlassungen, 
"Arbeitgeber" statt Untemehmerschaft, 
"Deregulierung" statt Kapitalismus im 
Urzustand) zu verhuellen, die im Endeffekt darauf 
zielt, unter anderen Folgen jene Zivilisationsform 
zu zerstoeren, die mit dem Entstehen des Staats, 
dieser entschieden modernen Idee, verbunden 
ist.

Es wird nicht leicht werden, gleichzeitig jenes 
Vertrauen der Investoren, das Hans Tietmeyer 
ueber alles andere stellt, und das Vertrauen der 
Arbeiter, aller Buerger zu erringen.  Als Beleg 
dafuer reicht mir eine Umfrage, die in derselben 
Ausgabe von "Le Monde" erschienen ist wie das 
Interview mit Tietmeyer.  Fast zwei Drittel der 
Befragten halten Politiker fuer unfaehig, zuzuhoeren 
und zu beruecksichtigen, was die Buerger denken; 
die grosse Mehrheit der Franzosen hegt gegen 
sie ein tiefes "Misstrauen".  Es reicht, diese 
einfachen Feststellungen neben die 
Aeusserungen Hans Tietmeyers zu stellen, um 
deutlich zu erkennen, dass die verschiedenen 
europaeischen Regierungen alle vor derselben 
Alternative stehen: Selbstzerstoerung im 
Bemuehen, das Vertrauen der Finanzmaerkte zu 
gewinnen, oder Ueberwinden der eigenen 
Beschraenkungen durch die Arbeit an einem 
supranationalen Sozialstaat, der in der Lage ist, 
das Vertrauen des Volks zu erwerben.  Dieses 
ist die einzige moegliche Grundlage einer echten 
Demokratie, die gleichermassen politisch und 
wirtschaftlich ist.

Aus:, Liberation', Paris, 25. 10. 1996 (Auszuege).
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