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Subject: HAB: Der letzte Metaphysiker
Date: Mon, 15 Oct 2001 12:23:55 -0300


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Der letzte Metaphysiker

Man dürfe von ihm keine Sonntagsrede erwarten, "die polarisiert, die die einen aufspringen und die anderen sitzenbleiben läßt". Das sagte Jürgen Habermas gleich zu Beginn seiner gestrigen Rede zur Verleihung des Friedenspreises in der Paulskirche. Tatsächlich waren viele Erwartungen in genau diese Richtung gegangen: Habermas werde die prominente Gelegenheit doch wohl nutzen, um sich - wie er es seinerzeit im Kosovo-Konflikt getan hatte - eindeutig für oder gegen die Militärschläge in Afghanistan zu äußern. An diesem Sonntag tat er es nicht. "Im Augenblick bleibt uns nicht viel mehr als die fahle Hoffnung auf eine List der Vernunft - und ein wenig Selbstbesinnung".

Es wurde eine solche Stunde der Selbstbesinnung, die die aktuelle Bedrohungssituation in ihrem geistesgeschichtlichen Gehalt zu verstehen suchte: als eine Aktualisierung des großen Traditionsthemas "Glauben und Wissen", wie Habermas seine Rede programmatisch überschrieb, die ihm unterderhand zu einer eindrucksvollen Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Folgen der westlichen Säkularisierung geriet. Natürlich nicht, wie sich bald herausstellen sollte, um damit der irrigen Deutung eines "Kampfes der Religionen" Vorschub zu leisten - sondern um im Gegenteil danach zu fragen, wie den "Risiken einer andernorts entgleisenden Säkularisierung" hierzulande mit "Augenmaß" begegnet werden kann. "Wer einen Krieg der Kulturen vermeiden will, muß sich die unabgeschlossene Dialektik des eigenen, unseres abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerung rufen."

Ein solches Augenmaß stellt sich nur ein - und das war das Grundmotiv, das Habermas in seiner Rede verfolgte -, wenn der Westen sich über seine eigenen Säkularisierungsprozesse deutlicher Rechenschaft gebe. So wurde die in diesen Tagen gern als deplaziert hingestellte "Ursachenforschung" von Habermas philosophisch rehabilitiert: Nicht mit einem hektischen Plädoyer für mehr Entwicklungshilfe oder vordergründig rationalisierende Feldstudien. Habermas ging es vielmehr um die grundlegende Frage, wie die unausweichlich fortschreitende Säkularisierung doch in der Weise zu steuern sei, daß "fast schon Vergessenes, aber implizit Vermißtes" im Modus der - säkularen - Übersetzung gerade nicht vernichtet wird, sondern weitgehend erhalten bleibt. Anderenfalls sei es unvermeidlich, fügte er vom Manuskript abweichend hinzu, daß in den Augen der arabischen Welt der Westen nur als "Kreuzritter einer konkurrierenden Glaubensmacht" erscheint, als "Handlungsreisender einer instrumentellen Vernunft, die jeden Sinn unter sich begräbt".

Um zu verhindern, daß die einen aufspringen und die anderen sitzenbleiben - am Ende stand die gesamte Paulskirche auf, um standing ovations zu geben - hatte Habermas bereits auf einer Pressekonferenz am Samstag den Vorschlag gemacht, die strittigen Fragen der Tagespolitik gleichsam geschichtsphilosophisch zu entschärfen. Ob die Militärschläge gegen Afghanistan "in dieser Form und zu diesem Zeitpunkt klug waren", sei im Augenblick schwer zu beurteilen. "Das ist ja mit Geschichte immer so: Nachher weiß man's besser." Während er im Kosovo-Konflikt den Übergang vom Völkerrecht zum Weltbürgerrecht durch einen "Vorgriff" gewährleistet sehen wollte, schien er nun dem Gang der Geschichte nicht vorgreifen zu wollen - womit freilich doch alles wieder auf die Figur des Vorgriffs hinausgelaufen wäre. In der Paulskirche dann aber die klare Mahnung zur "Rückkehr des Politischen in anderer Gestalt - nicht in der Hobbistischen Ursprungsgestalt des globalisierten Sicherheitsstaates, also in den Dimensionen von Polizei, Geheimdienst und Militär, sondern als weltweit zivilisierende Gestaltungsmacht".

Nun hat - darauf machte Jan Philipp Reemtsma in seiner Laudatio aufmerksam - die Anstrengung von Habermas immer schon der Frage gegolten, wie die Gehalte der Tradition in einem weltanschaulich neutralen Gemeinwesen eine Übersetzung finden könnten. Aber während er bisher stets betonte, bei allen Überlebenshilfen für minoritäre Kulturen dürfe es einen kulturellen Artenschutz nicht geben; in einem liberalen Staat könnten partikulare Positionen - also etwa religiöse Auffassungen - nur insoweit Geltung beanspruchen, wie sie sich "für alle" verständlich machen können, kam es nun in Frankfurt zu einer charkteristischen Akzentverlagerung. Bisher, so Habermas, mute der liberale Staat ja nur den Gläubigen unter seinen Bürgern zu, ihre Identität gleichsam in öffentliche und private Anteile aufzuspalten. Sie seien es, "die ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden". Wo aber, wie bei der Gentechnik, existentiell relevante Fragen auf die politische Agenda kommen, dürften säkulare Mehrheiten "keine Beschlüsse durchdrücken, bevor sie nicht dem Einspruch von Opponenten, die sich davon in ihren Glaubensüberzeugungen verletzt fühlen, Gehör geschenkt haben".

Freilich verstörte hier zweierlei: Gerade das Beispiel der Gentechnik zeigt, daß die von Habermas scharf geschnittene Antithese zwischen Wissenschaft und Religion so nicht aufgeht - hat doch gerade der aktuelle Streit um die Gentechnik erwiesen, daß die unterschiedlichen Positionen hier quer zu den weltanschaulich, politisch oder religiös dingfest zu machenden Grenzlinien verlaufen. Zum anderen bleibt bei Habermas völlig ungeklärt, was das politisch heißen soll: Der liberale Staat dürfe keine säkularen Beschlüsse "durchdrücken", er möge vielmehr dem Einspruch von Opponenten partikularer Provenienz "Gehör schenken". Was soll das anderes bedeuten, als daß am Ende - wie in der Demokratie üblich - die Mehrheit entscheidet? Habermas selbst scheint gesehen zu haben, daß in seinem Appell, religiöse Sichtweisen stärker zu berücksichtigen, operativ nicht viel drinsteckt. Der in der schriftlichen Fassung des Redemanuskriptes noch enthaltene Vorschlag, den Einspruch von Glaubensüberzeugungen parlamentarisch "als eine Art aufschiebendes Veto" zu behandeln, tauchte im mündlichen Vortrag denn auch nicht mehr auf. So blieb die politische Pointe des Projekts, die Defizite der Säkularisierung auszugleichen, also "fast schon Vergessenes, aber implizit Vermißtes" demokratietheoretisch zu sichern, hier doch eher unscharf.

Im Vorfeld der Preisverleihung war die philosophische Grundentscheidung von Habermas, metaphysische Gehalte "postmetaphysisch" zu übersetzen, einmal mehr mit der These verbunden worden, Habermas sei der letzte Metaphysiker nach dem Ende der Metaphysik: ein Metaphysiker, der seine eigene Position verleugne, um überleben zu können, wie etwa Klaus Podak zuspitzend schrieb. "Denn was er betreibt, das ist Metaphysik im Gewande der Verabschiedung von Metaphysik. Philosophie ohne Philosophie im alten Sinne. Oder: gegen Philosophie." In der Paulskirche nun holte der Preisträger zu einer Offenbarung seines philosophischen Selbstverständnisses aus, wie sie - sieht man von dem Interview "Gott und die Welt" in dem soeben erschienenen Folgeband der Kleinen politischen Schriften mit dem Titel "Zeit der Übergänge" ab - in dieser Deutlichkeit zuvor noch nicht zu hören gewesen war. Noch einmal am Beispiel der Gentechnik machte Habermas in der Paulskirche deutlich, daß er sein Philosophieren tatsächlich unter die Aufgabe gestellt sehen will, der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes die Treue zu halten - darin völlig eins mit der Intention Adornos, wenn auch nicht mit dessen Mitteln der Durchführung.

Interessant war, daß Habermas es in seiner Frankfurter Rede darauf anlegte, die metaphysischen Prämissen seiner gentechnischen Skepsis auszubuchstabieren - gewissermaßen als aktuellen Testfall für den Appell, die Ambivalenzen der westlichen Säkularisierung künftig stärker zu beleuchten, um den Dialog der Kulturen auf erfolgreichere Beine zu stellen. Seine Ausführungen hörten sich dabei streckenweise wie ein theologisches Traktat an, wenn er - als jemand, der sich ohne Zögern für einen "religiös Unmusikalischen" hält - über "die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf" redete, über die Freiheit verbürgende "Gottesebenbildlichkeit" des Menschen. Ironischerweise gewann sein Einspruch gegen eugenische Praktiken auf diese Weise erst in der Paulskirche jene Plausibilität, an der es seinem jüngsten, die metaphysischen Voraussetzungen noch latent haltenden Buch "Die Zukunft der menschlichen Natur" zum Teil gerade mangelte.

Mit seiner Frankfurter Rede hat Habermas in Erinnerung gerufen, daß ein Common sense, der sich vom kontraintuitiven Wissen der Wissenschaften nicht nur belehren, sondern mit Haut und Haaren konsumieren läßt, den Herausforderungen einer das Unbedingte zersetzenden Säkularisierung nicht gewachsen ist. "Der szientistische Glaube an eine Wissenschaft, die eines Tages das personale Selbstverständnis durch eine objektivierende Selbstbeschreibung nicht nur ergänzt, sondern ablöst, ist nicht Wissenschaft, sondern schlechte Philosophie." Den Satz Horkheimers "Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel" hat Habermas nicht ausdrücklich erwähnt. Aber in unsichtbaren Lettern stand er an den Wänden der Paulskirche geschrieben.

CHRISTIAN GEYER
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2001, Nr. 239 / Seite 49

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