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Subject: HAB: Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung
Date: Mon, 1 Apr 2002 00:53:58 -0300


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En blancoARBEITSPROGRAMM DES INSTITUTS F=DCR SOZIALFORSCHUNG



"Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung."

Zur Begr=FCndung eines =FCbergreifenden Forschungsthemas
des Instituts f=FCr Sozialforschung

Seit April 2001 ist Axel Honneth gesch=E4ftsf=FChrender Direktor des Instituts f=FCr Sozialforschung. Neben ihm geh=F6ren dem Kollegium des Instituts Sighard Neckel, Wilhelm Schumm, Adalbert Evers und Klaus G=FCnther an. Dieses Kollegium legt hiermit erste programmatische =DCberlegungen zum zuk=FCnftigen Forschungsprogramm vor.

Im Institut f=FCr Sozialforschung verfolgen wir den Plan, in den n=E4chsten drei Jahren den konzeptuellen Rahmen f=FCr ein umfangreiches Forschungsprojekt zu entwickeln, das in enger Kooperation mit Hochschullehrern der J. W. G. Universit=E4t durchgef=FChrt werden soll. Das Projekt soll in interdisziplin=E4rer Ausrichtung der Untersuchung von gesellschaftlichen Strukturwandlungen der Gegenwart gelten, die wir unter dem Titel "Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung" zusammenfassen. Ich will zun=E4chst die Grundidee dieses Forschungsvorhabens erl=E4utern, bevor ich die ins Auge gefassten Einzelprojekte im einzelnen vorstelle.

Die sozialstrukturellen Wandlungen, die sich gegenw=E4rtig in den westlichen Gesellschaften vollziehen, bieten das Bild eines h=F6chst widerspr=FCchlichen Prozesses. Auf der einen Seite haben wir es im Gefolge von institutionellen Ver=E4nderungen, die etwa unter den Begriffen der "reflexiven Modernisierung" und des Wandels zur "Wissensgesellschaft" zusammengefasst werden, mit einer Vielzahl von unleugbaren Fortschritten in moralischer, rechtlicher und materieller Hinsicht zu tun: geschlechtsspezifische Rollenklischees sind zumindest in bestimmten Schichten in Aufl=F6sung begriffen, die Rigidit=E4t der traditionellen Kleinfamilie verliert sich tendenziell in eine Vielzahl von neuen familialen Arrangements, die rechtliche Gleichstellung von Frauen hat sich ebenso verbessert wie diejenige der Mitglieder von kulturellen oder ethnischen Minderheiten, und schlie=DFlich erlaubt die moderne wissensgest=FCtzte =D6konomie enorme Wertsch=F6pfungsketten, die die materielle Lage breiter Bev=F6lkerungsschichten erheblich verbessert. Lassen sich alle diese Entwicklungen als Erweiterungen von individuellen Freiheitsspielr=E4umen verstehen, so stehen ihnen allerdings sozio=F6konomische Wandlungen gegen=FCber, die die tats=E4chliche Wahrnehmung der gewachsenen Optionen f=FCr einen gr=F6=DFer werdenden Teil der Bev=F6lkerung strukturell erschweren oder die die erweiterten Freiheitsspielr=E4ume im Verlauf ihrer Ausrichtung auf =F6konomische Effizienzmuster wieder verschliessen und mitunter sogar in ihr Gegenteil verkehren. So w=E4chst durch wachsende Tendenzen der Deregulierung des Arbeitsmarktes, durch neue Formen der Verarmung und Ausschliessung einerseits die Zahl derer, die aufgrund geringer Ressourcenausstattung von den normativen Fortschritten keinen Gebrauch machen k=F6nnen. Andererseits sehen sich auch =F6konomisch etabliertere Sozialgruppen mit dem Dilemma konfrontiert, die Flexibilisierung individueller Lebensverl=E4ufe als einen =F6konomischen Zwang auferlegt zu bekommen, der ihre pers=F6nlichen Autonomiegewinne wieder erheblich reduziert. Die materiellen Ertr=E4ge der modernen "Wissens=F6konomie" wiederum, die die wirtschaftliche Gew=E4hr f=FCr eine allgemeine Besserstellung breiter gesellschaftlicher Schichten darstellen k=F6nnten, werden im Zuge eines "Shareholder Value"-Kapitalismus zunehmend auf Anteilseigner und berufliche Spitzengruppen einseitig konzentriert. Diese Gegenl=E4ufigkeit bildet nur einen kleinen Ausschnitt aus den vielz=E4hligen Prozessen, die wir mit Blick auf Ver=E4nderungstendenzen in westlichen Gesellschaften als "Paradoxien der kapita-listischen Modernisierung" begreifen wollen. Von einem solchen paradoxalem Geschehen k=F6nnen wir in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen immer dann sprechen, wenn ein- und derselbe Strukturwandel durch dieselben Mechanismen, die moralische, rechtliche und materielle Fortschritte zustandebringen, diese normativen Errungenschaften auch wieder gef=E4hrdet, weil durch ihn die sozialen Voraussetzungen f=FCr deren Wahrnehmung zerst=F6rt werden oder der Sinngehalt jener Errungenschaften folgenreich verkehrt wird.

Nach unserer =DCberzeugung lassen sich solche paradoxen Entwicklungen heute zumindest in f=FCnf Dimensionen beobachten, die wir im interdisziplin=E4ren Austausch zwischen Soziologen, Rechtswissenschaftlern, Historikern, Entwicklungspsychologen und Philosophen untersuchen wollen:

1.      Auf einer obersten Stufe, die als konzeptuelles Dach des gesamten Projektes dienen soll, wollen wir die umrissenen Paradoxien in Hinblick auf den Strukturwandel der normativen Integrationsprinzipien selbst erforschen. Einerseits ist hier an ein eher kultursoziologisches Projekt gedacht, das Tendenzen einer schleichenden Erosion des Leistungsprinzips untersuchen soll: w=E4hrend sich heute der bislang auf Erwerbst=E4tigkeiten reduzierte Leistungsbegriff f=FCr andere Dimensionen gesellschaftlich n=FCtzlicher Arbeit (Familienarbeit, Hausarbeit, B=FCrgerarbeit) zu =F6ffnen beginnt, droht er gleichzeitig in ein blosses Erfolgsprinzip umzuschlagen, in dem Statusgewinne =FCberhaupt von jedem Rest an Leistungserbringung normativ entkoppelt und auf den tats=E4chlichen Markterfolg umgepolt sind. Eine andere Paradoxie solcher Art vermuten wir in Hinblick auf das Verantwortungsprinzip: in dem historischen Augenblick, in dem durch immer komplexer werdende Handlungsketten die =DCbernahme von individueller Verantwortung f=FCr Handlungsfolgen immer schwieriger wird, vollziehen sich im Strafrecht ebenso wie in der Sozialpolitik gleichzeitig Tendenzen einer wachsenden Individualisierung von Verantwortlichkeit. Schliesslich rechnen wir mit einer solchen paradoxalen Entwicklung auch im Hinblick auf ethnische Beziehungen: In dem Moment, in dem ethnische Minorit=E4ten durch rechtliche Garantien ein h=F6heres Ma=DF an gesellschaftlicher Anerkennung zu finden verm=F6gen und sich gleichzeitig die gegenw=E4rtigen Muster sozialer Ungleichheit fortdauernd "ethnisieren", beschw=F6rt die durch rechtliche Anerkennungsgewinne erst erm=F6glichte vermehrte Konfliktf=E4higkeit ethnischer Minorit=E4ten die Entstehung eines "ethnischen Separatismus"  von Mehrheiten ("Leitkultur") und Minderheiten ("Fundamentalismus") herauf, der zu einer Intensivierung ethnischer Mobilisierungen f=FChren kann anstatt die Beziehungen ethnischer Gruppen demokratisch zu pazifizieren. Eine Folge hiervon ist etwa der soziale Zwang zur "Selbstethnisierung", der den Zuwachs individueller Optionen bei der Artikulation sozialer Zugeh=F6rigkeiten nachhaltig unterlaufen kann. (Prof. Dr. Klaus G=FCnther, FB 01; Prof. Dr. Sighard Neckel, IfS).

2.      Ein zweiter Bereich, in dem wir Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung untersuchen wollen, stellt die Sph=E4re der Erwerbst=E4tigkeit im Industriesektor und Dienstleistungsbereich dar: an kaum einem anderen Ort vollziehen sich die genannten Paradoxien heute greifbarer als dort, wo die Qualit=E4tssteigerung bestimmter Formen von organisierter Arbeit, ihre wachsende Autonomisierung und Anspruchssteigerung, einhergeht mit einem rapide voranschreitenden Prozess der Deregulierung und Flexibilisierung. In dem Augenblick, in dem die normativen Erwartungen der Besch=E4ftigten an die Qualit=E4t ihrer T=E4tigkeit aus vielen Gr=FCnden anzusteigen beginnt, f=FChrt ein rasanter Wandel in der gesellschaftlichen Arbeitsorganisation (Kontraktfertigung) zu einer Durchl=F6cherung des traditionellen Lohnarbeitsverh=E4ltnisses, dessen Folge eine sozio=F6konomische Gef=E4hrdung von gro=DFen Teilen der abh=E4ngigen Besch=E4ftigten ist (Prof. Dr. W. Schumm, FB 03).

3.      Wir wollen ferner solche paradoxalen Entwicklungen im Bereich der familialen Sozialisation untersuchen, in der sich gegenw=E4rtig ein beschleunigter Prozess der Enttraditionalisierung vollzieht, der zu einer Deinstitutionalisierung der b=FCrgerlichen Kleinfamilie f=FChrt. Was in dieser Sph=E4re als eine m=F6gliche Paradoxie erscheinen kann, sind die sozialisatorischen Konsequenzen, die mit der Pluralisierung von Familienformen einherzugehen drohen: im Zuge der radikal gewandelten Beziehungsmuster zwischen Vater und Mutter mag sich die symbolisch repr=E4sentierte Triangularit=E4t im Sozialisationsprozess so aufzul=F6sen beginnen, dass die Kinder die F=E4higkeit zu stabilen Bindungen verlieren und mit wachsenden Schwierigkeiten im Gruppenverhalten reagieren. Wir wollen daher untersuchen, welche sozialisatorischen Folgen sich aus der ver=E4nderten Beziehungsstruktur in sogenannten 'postmodernen' Familien ergeben (PD Dr. Martin Dornes, Zentrum der psychosozialen Grundlagen der Medizin).

4.      Von einer paradoxalen Entwicklung sprechen wir ferner in Bezug auf kulturelle Entwicklung der hochentwickelten Gesellschaften des Westens: Im Zuge einer Demokratisierung von Bildung und =D6ffentlichkeit verliert die b=FCrgerliche Kultur hier die Exklusivit=E4t und Ausschlie=DFlichkeit ihrer alleinigen sozialen Geltung, was auch die Legitimit=E4t minorit=E4rer und subkultureller =E4sthetischer Muster erh=F6ht. Durch denselben Prozess der Delegitimierung der b=FCrgerlichen Oberschichtenkultur wachsen allerdings auch die M=F6glichkeiten der kommerziellen Kulturindustrie, ihre vor allem medialen Konsumangebote ausschliesslich nach Ma=DFgabe =F6konomischer Rentabilit=E4t am blo=DFen Unterhaltungswert zu orientieren, wodurch das substanzielle Niveau kultureller Bildung und =E4sthe-tischer Sensibilit=E4t, wie es sich nunmehr in den Angeboten der popul=E4ren Kultur repr=E4sentiert, aufgrund der medialen Konkurrenzk=E4mpfe der Tendenz nach eher im Sinken begriffen ist. Zudem favorisiert die kommerzielle Medienkultur jene gesellschaftlichen Milieus, die in ihrem eigenen Lebensstil den verk=E4uflichen Unterhaltungsmustern am meisten entsprechen, w=E4hrend weniger auff=E4llige Sozialmilieus eher geringere Chancen =F6ffentlicher Darstellung finden (Prof. Dr. Axel Honneth, FB 08; Prof. Dr. Sighard Neckel, IfS).

5.      Schliesslich sind wir der =DCberzeugung, dass auch in Bezug auf die Entwicklung des Sozialstaates in den westlichen Gesellschaften von einer Paradoxie gesprochen werden kann: im Zuge der reflexiven =DCberwindung des =FCberb=FCrokratisierten Sozialstaates, wie sie sich heute durch Schaffung von klienteln=E4heren, flexiblen Versorungsmustern in unterschiedlichen Arenen der Zivilgesellschaft vollzieht, entsteht gleichzeitig die Gefahr einer Aufl=F6sung jener sozialen Rechte, die die Anspr=FCche der Betroffenen bislang gesch=FCtzt haben. Zu denken ist hier vor allem an Tendenzen einer schleichenden Vermarktlichung der sozialen Dienste, in deren Windschatten soziale Rechte durch ein noch un=FCbersichtliches Gewebe aus paternalistischer F=FCrsorge und individueller Gegenleistung ersetzt werden (Prof. Dr. Ute Gerhard, FB 03; Prof. Dr. Adalbert Evers, IfS).



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INSTITUT F=DCR SOZIALFORSCHUNG an der JOHANN WOLFGANG GOETHE-UNIVERSIT=C4T
Senckenberganlage 26, 60325 Frankfurt am Main, Telefon: 069 - 75 61 83 0 - Telefax: 069 - 74 99 07


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ARBEITSPROGRAMM DES INSTITUTS F=DCR SOZIALFORSCHUNG


"Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung."

Zur Begr=FCndung eines =FCbergreifenden Forschungsthemas
des Instituts f=FCr Sozialforschung

Seit April 2001 ist Axel Honneth gesch=E4ftsf=FChrender Direktor des Instituts f=FCr Sozialforschung. Neben ihm geh=F6ren dem Kollegium des Instituts Sighard Neckel, Wilhelm Schumm, Adalbert Evers und Klaus G=FCnther an. Dieses Kollegium legt hiermit erste programmatische =DCberlegungen zum zuk=FCnftigen Forschungsprogramm vor.

Im Institut f=FCr Sozialforschung verfolgen wir den Plan, in den n=E4chsten drei Jahren den konzeptuellen Rahmen f=FCr ein umfangreiches Forschungsprojekt zu entwickeln, das in enger Kooperation mit Hochschullehrern der J. W. G. Universit=E4t durchgef=FChrt werden soll. Das Projekt soll in interdisziplin=E4rer Ausrichtung der Untersuchung von gesellschaftlichen Strukturwandlungen der Gegenwart gelten, die wir unter dem Titel "Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung" zusammenfassen. Ich will zun=E4chst die Grundidee dieses Forschungsvorhabens erl=E4utern, bevor ich die ins Auge gefassten Einzelprojekte im einzelnen vorstelle.

Die sozialstrukturellen Wandlungen, die sich gegenw=E4rtig in den westlichen Gesellschaften vollziehen, bieten das Bild eines h=F6chst widerspr=FCchlichen Prozesses. Auf der einen Seite haben wir es im Gefolge von institutionellen Ver=E4nderungen, die etwa unter den Begriffen der "reflexiven Modernisierung" und des Wandels zur "Wissensgesellschaft" zusammengefasst werden, mit einer Vielzahl von unleugbaren Fortschritten in moralischer, rechtlicher und materieller Hinsicht zu tun: geschlechtsspezifische Rollenklischees sind zumindest in bestimmten Schichten in Aufl=F6sung begriffen, die Rigidit=E4t der traditionellen Kleinfamilie verliert sich tendenziell in eine Vielzahl von neuen familialen Arrangements, die rechtliche Gleichstellung von Frauen hat sich ebenso verbessert wie diejenige der Mitglieder von kulturellen oder ethnischen Minderheiten, und schlie=DFlich erlaubt die moderne wissensgest=FCtzte =D6konomie enorme Wertsch=F6pfungsketten, die die materielle Lage breiter Bev=F6lkerungsschichten erheblich verbessert. Lassen sich alle diese Entwicklungen als Erweiterungen von individuellen Freiheitsspielr=E4umen verstehen, so stehen ihnen allerdings sozio=F6konomische Wandlungen gegen=FCber, die die tats=E4chliche Wahrnehmung der gewachsenen Optionen f=FCr einen gr=F6=DFer werdenden Teil der Bev=F6lkerung strukturell erschweren oder die die erweiterten Freiheitsspielr=E4ume im Verlauf ihrer Ausrichtung auf =F6konomische Effizienzmuster wieder verschliessen und mitunter sogar in ihr Gegenteil verkehren. So w=E4chst durch wachsende Tendenzen der Deregulierung des Arbeitsmarktes, durch neue Formen der Verarmung und Ausschliessung einerseits die Zahl derer, die aufgrund geringer Ressourcenausstattung von den normativen Fortschritten keinen Gebrauch machen k=F6nnen. Andererseits sehen sich auch =F6konomisch etabliertere Sozialgruppen mit dem Dilemma konfrontiert, die Flexibilisierung individueller Lebensverl=E4ufe als einen =F6konomischen Zwang auferlegt zu bekommen, der ihre pers=F6nlichen Autonomiegewinne wieder erheblich reduziert. Die materiellen Ertr=E4ge der modernen "Wissens=F6konomie" wiederum, die die wirtschaftliche Gew=E4hr f=FCr eine allgemeine Besserstellung breiter gesellschaftlicher Schichten darstellen k=F6nnten, werden im Zuge eines "Shareholder Value"-Kapitalismus zunehmend auf Anteilseigner und berufliche Spitzengruppen einseitig konzentriert. Diese Gegenl=E4ufigkeit bildet nur einen kleinen Ausschnitt aus den vielz=E4hligen Prozessen, die wir mit Blick auf Ver=E4nderungstendenzen in westlichen Gesellschaften als "Paradoxien der kapita-listischen Modernisierung" begreifen wollen. Von einem solchen paradoxalem Geschehen k=F6nnen wir in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungen immer dann sprechen, wenn ein- und derselbe Strukturwandel durch dieselben Mechanismen, die moralische, rechtliche und materielle Fortschritte zustandebringen, diese normativen Errungenschaften auch wieder gef=E4hrdet, weil durch ihn die sozialen Voraussetzungen f=FCr deren Wahrnehmung zerst=F6rt werden oder der Sinngehalt jener Errungenschaften folgenreich verkehrt wird.

Nach unserer =DCberzeugung lassen sich solche paradoxen Entwicklungen heute zumindest in f=FCnf Dimensionen beobachten, die wir im interdisziplin=E4ren Austausch zwischen Soziologen, Rechtswissenschaftlern, Historikern, Entwicklungspsychologen und Philosophen untersuchen wollen:

1.      Auf einer obersten Stufe, die als konzeptuelles Dach des gesamten Projektes dienen soll, wollen wir die umrissenen Paradoxien in Hinblick auf den Strukturwandel der normativen Integrationsprinzipien selbst erforschen. Einerseits ist hier an ein eher kultursoziologisches Projekt gedacht, das Tendenzen einer schleichenden Erosion des Leistungsprinzips untersuchen soll: w=E4hrend sich heute der bislang auf Erwerbst=E4tigkeiten reduzierte Leistungsbegriff f=FCr andere Dimensionen gesellschaftlich n=FCtzlicher Arbeit (Familienarbeit, Hausarbeit, B=FCrgerarbeit) zu =F6ffnen beginnt, droht er gleichzeitig in ein blosses Erfolgsprinzip umzuschlagen, in dem Statusgewinne =FCberhaupt von jedem Rest an Leistungserbringung normativ entkoppelt und auf den tats=E4chlichen Markterfolg umgepolt sind. Eine andere Paradoxie solcher Art vermuten wir in Hinblick auf das Verantwortungsprinzip: in dem historischen Augenblick, in dem durch immer komplexer werdende Handlungsketten die =DCbernahme von individueller Verantwortung f=FCr Handlungsfolgen immer schwieriger wird, vollziehen sich im Strafrecht ebenso wie in der Sozialpolitik gleichzeitig Tendenzen einer wachsenden Individualisierung von Verantwortlichkeit. Schliesslich rechnen wir mit einer solchen paradoxalen Entwicklung auch im Hinblick auf ethnische Beziehungen: In dem Moment, in dem ethnische Minorit=E4ten durch rechtliche Garantien ein h=F6heres Ma=DF an gesellschaftlicher Anerkennung zu finden verm=F6gen und sich gleichzeitig die gegenw=E4rtigen Muster sozialer Ungleichheit fortdauernd "ethnisieren", beschw=F6rt die durch rechtliche Anerkennungsgewinne erst erm=F6glichte vermehrte Konfliktf=E4higkeit ethnischer Minorit=E4ten die Entstehung eines "ethnischen Separatismus"  von Mehrheiten ("Leitkultur") und Minderheiten ("Fundamentalismus") herauf, der zu einer Intensivierung ethnischer Mobilisierungen f=FChren kann anstatt die Beziehungen ethnischer Gruppen demokratisch zu pazifizieren. Eine Folge hiervon ist etwa der soziale Zwang zur "Selbstethnisierung", der den Zuwachs individueller Optionen bei der Artikulation sozialer Zugeh=F6rigkeiten nachhaltig unterlaufen kann. (Prof. Dr. Klaus G=FCnther, FB 01; Prof. Dr. Sighard Neckel, IfS).

2.      Ein zweiter Bereich, in dem wir Paradoxien der kapitalistischen Modernisierung untersuchen wollen, stellt die Sph=E4re der Erwerbst=E4tigkeit im Industriesektor und Dienstleistungsbereich dar: an kaum einem anderen Ort vollziehen sich die genannten Paradoxien heute greifbarer als dort, wo die Qualit=E4tssteigerung bestimmter Formen von organisierter Arbeit, ihre wachsende Autonomisierung und Anspruchssteigerung, einhergeht mit einem rapide voranschreitenden Prozess der Deregulierung und Flexibilisierung. In dem Augenblick, in dem die normativen Erwartungen der Besch=E4ftigten an die Qualit=E4t ihrer T=E4tigkeit aus vielen Gr=FCnden anzusteigen beginnt, f=FChrt ein rasanter Wandel in der gesellschaftlichen Arbeitsorganisation (Kontraktfertigung) zu einer Durchl=F6cherung des traditionellen Lohnarbeitsverh=E4ltnisses, dessen Folge eine sozio=F6konomische Gef=E4hrdung von gro=DFen Teilen der abh=E4ngigen Besch=E4ftigten ist (Prof. Dr. W. Schumm, FB 03).

3.      Wir wollen ferner solche paradoxalen Entwicklungen im Bereich der familialen Sozialisation untersuchen, in der sich gegenw=E4rtig ein beschleunigter Prozess der Enttraditionalisierung vollzieht, der zu einer Deinstitutionalisierung der b=FCrgerlichen Kleinfamilie f=FChrt. Was in dieser Sph=E4re als eine m=F6gliche Paradoxie erscheinen kann, sind die sozialisatorischen Konsequenzen, die mit der Pluralisierung von Familienformen einherzugehen drohen: im Zuge der radikal gewandelten Beziehungsmuster zwischen Vater und Mutter mag sich die symbolisch repr=E4sentierte Triangularit=E4t im Sozialisationsprozess so aufzul=F6sen beginnen, dass die Kinder die F=E4higkeit zu stabilen Bindungen verlieren und mit wachsenden Schwierigkeiten im Gruppenverhalten reagieren. Wir wollen daher untersuchen, welche sozialisatorischen Folgen sich aus der ver=E4nderten Beziehungsstruktur in sogenannten 'postmodernen' Familien ergeben (PD Dr. Martin Dornes, Zentrum der psychosozialen Grundlagen der Medizin).

4.      Von einer paradoxalen Entwicklung sprechen wir ferner in Bezug auf kulturelle Entwicklung der hochentwickelten Gesellschaften des Westens: Im Zuge einer Demokratisierung von Bildung und =D6ffentlichkeit verliert die b=FCrgerliche Kultur hier die Exklusivit=E4t und Ausschlie=DFlichkeit ihrer alleinigen sozialen Geltung, was auch die Legitimit=E4t minorit=E4rer und subkultureller =E4sthetischer Muster erh=F6ht. Durch denselben Prozess der Delegitimierung der b=FCrgerlichen Oberschichtenkultur wachsen allerdings auch die M=F6glichkeiten der kommerziellen Kulturindustrie, ihre vor allem medialen Konsumangebote ausschliesslich nach Ma=DFgabe =F6konomischer Rentabilit=E4t am blo=DFen Unterhaltungswert zu orientieren, wodurch das substanzielle Niveau kultureller Bildung und =E4sthe-tischer Sensibilit=E4t, wie es sich nunmehr in den Angeboten der popul=E4ren Kultur repr=E4sentiert, aufgrund der medialen Konkurrenzk=E4mpfe der Tendenz nach eher im Sinken begriffen ist. Zudem favorisiert die kommerzielle Medienkultur jene gesellschaftlichen Milieus, die in ihrem eigenen Lebensstil den verk=E4uflichen Unterhaltungsmustern am meisten entsprechen, w=E4hrend weniger auff=E4llige Sozialmilieus eher geringere Chancen =F6ffentlicher Darstellung finden (Prof. Dr. Axel Honneth, FB 08; Prof. Dr. Sighard Neckel, IfS).

5.      Schliesslich sind wir der =DCberzeugung, dass auch in Bezug auf die Entwicklung des Sozialstaates in den westlichen Gesellschaften von einer Paradoxie gesprochen werden kann: im Zuge der reflexiven =DCberwindung des =FCberb=FCrokratisierten Sozialstaates, wie sie sich heute durch Schaffung von klienteln=E4heren, flexiblen Versorungsmustern in unterschiedlichen Arenen der Zivilgesellschaft vollzieht, entsteht gleichzeitig die Gefahr einer Aufl=F6sung jener sozialen Rechte, die die Anspr=FCche der Betroffenen bislang gesch=FCtzt haben. Zu denken ist hier vor allem an Tendenzen einer schleichenden Vermarktlichung der sozialen Dienste, in deren Windschatten soziale Rechte durch ein noch un=FCbersichtliches Gewebe aus paternalistischer F=FCrsorge und individueller Gegenleistung ersetzt werden (Prof. Dr. Ute Gerhard, FB 03; Prof. Dr. Adalbert Evers, IfS).


INSTITUT F=DCR SOZIALFORSCHUNG an der JOHANN WOLFGANG GOETHE-UNIVERSIT=C4T
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