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Subject: HAB: Habermas und Derrida
Date: Sat, 31 May 2003 13:10:05 -0300


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Habermas und Derrida
Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas

31. Mai 2003 Die Initiative ist bis zum letzten Moment geheimgehalten worden: An diesem Samstag, den 31. Mai 2003, ver=F6ffentlicht eine Gruppe von prominenten europ=E4ischen Intellektuellen ihre Vorstellungen zu einer k=FCnftigen europ=E4ischen Au=DFenpolitik.

Der Wortf=FChrer der Initiative, J=FCrgen Habermas, begr=FCndet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gemeinsam mit Jacques Derrida, warum gerade nach dem Irak-Krieg, der Europas Einheit einer ungeahnten Belastungsprobe ausgesetzt hat, jetzt der geeignete Moment gekommen ist, um die europ=E4ische Rolle in der Welt neu zu definieren. In enger Absprache ver=F6ffentlichen gleichzeitig andere namhafte europ=E4ische Zeitungen dazu erg=E4nzende Texte: "Libération" aus Paris wird auf Wunsch Derridas den gemeinsam mit Habermas verfa=DFten Text dokumentieren, In der italienischen "Repubblica" wird sich Umberto Eco =E4u=DFern, in der "Neuen Z=FCrcher Zeitung" Adolf Muschg, in "El Pais" aus Spanien Fernando Savater, Gianni Vattimo in Italiens "La Stampa" und als direkte Antwort auf Habermas Richard Rorty in der "S=FCddeutschen Zeitung". Die F.A.Z. wird die Debatte in den n=E4chsten Tagen fortf=FChren, auf  Vorschlag von Habermas beginnend mit einem Beitrag des deutschen Verfassungsrechtlers Dieter Grimm.

Der Essay von Habermas und Derrida versteht sich als Gegenvorschlag zum "Brief der Acht" vom 31. Januar, in dem unter F=FChrung Gro=DFbritanniens und Spaniens acht EU-Staaten und EU-Beitrittsl=E4nder ihre Unterst=FCtzung f=FCr die amerikanische Au=DFenpolitik bekundet hatten. Die beiden Philosophen rufen dagegen zu einer au=DFenpolitischen Erneuerung Europas auf, die nicht ohne eine attraktive kulturelle "Vision" auskomme. Die gro=DFen Antikriegsdemonstrationen vom 15. Februar werden "als Signal f=FCr die Geburt einer europ=E4ischen =D6ffentlichkeit in die Geschichte eingehen". FAZ.NET dokumentiert den Beitrag von Habermas und Derrida in Ausz=FCgen.

Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas / Von Jacques Derrida und J=FCrgen Habermas

Zwei Daten sollten wir nicht vergessen: nicht den Tag, an dem die Zeitungen ihren verbl=FCfften Lesern von jener Loyalit=E4tsbekundung gegen=FCber Bush Mitteilung machten, zu der der spanische Ministerpr=E4sident die kriegswilligen europ=E4ischen Regierungen hinter dem R=FCcken der anderen EU-Kollegen eingeladen hatte; aber ebensowenig den 15. Februar 2003, als die demonstrierenden Massen in London und Rom, Madrid und Barcelona, Berlin und Paris auf diesen Handstreich reagierten. Die Gleichzeitigkeit dieser =FCberw=E4ltigenden Demonstrationen - der gr=F6=DFten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges - k=F6nnte r=FCckblickend als Signal f=FCr die Geburt einer europ=E4ischen =D6ffentlichkeit in die Geschichtsb=FCcher eingehen.

W=E4hrend der bleiernen Monate vor Ausbruch des Irak-Krieges hatte eine moralisch obsz=F6ne Arbeitsteilung die Gef=FChle aufgew=FChlt. Die logistische Gro=DFoperation des unaufhaltsamen milit=E4rischen Aufmarschs und die hektische Betriebsamkeit der humanit=E4ren Hilfsorganisationen griffen wie Zahnr=E4der pr=E4zise ineinander. Das Spektakel vollzog sich unger=FChrt auch vor den Augen der Bev=F6lkerung, die - jeder eigenen Initiative beraubt - das Opfer sein w=FCrde. Kein Zweifel, die Macht der Gef=FChle hat Europas B=FCrger gemeinsam auf die Beine gebracht. Aber gleichzeitig hat der Krieg den Europ=E4ern das l=E4ngst angebahnte Scheitern ihrer gemeinsamen Au=DFenpolitik zu Bewu=DFtsein gebracht. Wie in aller Welt hat der burschikose Bruch des V=F6lkerrechts auch in Europa einen Streit =FCber die Zukunft der internationalen Ordnung entfacht. Aber uns haben die entzweienden Argumente tiefer getroffen.

(...)

Die k=FCnftige Verfassung wird uns einen europ=E4ischen Au=DFenminister bescheren. Aber was hilft ein neues Amt, solange sich die Regierungen nicht auf eine gemeinsame Politik einigen? Auch ein Fischer mit ver=E4nderter Amtsbezeichnung bliebe machtlos wie Solana. Einstweilen sind wohl nur die kerneurop=E4ischen Mitgliedstaaten bereit, der EU gewisse staatliche Qualit=E4ten zu verleihen. Was tun, wenn sich nur diese L=E4nder auf eine Definition "eigener Interessen" einigen k=F6nnen? Wenn Europa nicht auseinanderfallen soll, m=FCssen diese L=E4nder jetzt von dem in Nizza beschlossenen Mechanismus der "verst=E4rkten Zusammenarbeit" Gebrauch machen, um in einem "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" mit einer gemeinsamen Au=DFen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang zu machen.

Davon wird eine Sogwirkung ausgehen, der sich die anderen Mitglieder - zun=E4chst in der Eurozone - nicht auf Dauer werden entziehen k=F6nnen. Im Rahmen der k=FCnftigen europ=E4ischen Verfassung darf und kann es keinen Separatismus geben. Vorangehen hei=DFt nicht ausschlie=DFen. Das avantgardistische Kerneuropa darf sich nicht zu einem Kleineuropa verfestigen; es mu=DF - wie so oft - die Lokomotive sein.

(...)

In dieser Welt zahlt sich eine Zuspitzung der Politik auf die ebenso dumme wie kostspielige Alternative von Krieg und Frieden nicht aus. Europa mu=DF sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren. Auf Weltwirtschaftsgipfeln und in den Institutionen der Welthandelsorganisation, der Weltbank und des Internationalen W=E4hrungsfonds sollte es seinen Einflu=DF bei der Gestaltung des Designs einer k=FCnftigen Weltinnenpolitik zur Geltung bringen.

(...)

Gibt es historische Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften, die f=FCr europ=E4ische B=FCrger das Bewu=DFtsein eines gemeinsam erlittenen und gemeinsam zu gestaltenden politischen Schicksals stiften? Eine attraktive, ja ansteckende "Vision" f=FCr ein k=FCnftiges Europa f=E4llt nicht vom Himmel. Heute kann sie nur aus einem beunruhigenden Empfinden der Ratlosigkeit geboren werden. Aber sie kann aus der Bedr=E4ngnis einer Situation hervorgehen, in der wir Europ=E4er auf uns selbst zur=FCckgeworfen sind. Und sie mu=DF sich in der wilden Kakophonie einer vielstimmigen =D6ffentlichkeit artikulieren. Wenn das Thema bisher nicht einmal auf die Agenda gelangt ist, haben wir Intellektuelle versagt.

Auf Unverbindliches kann man sich leicht einigen. Uns allen schwebt das Bild eines friedlichen, kooperativen, gegen=FCber anderen Kulturen ge=F6ffneten und dialogf=E4higen Europas vor. Wir begr=FC=DFen das Europa, das in der zweiten H=E4lfte des zwanzigsten Jahrhunderts exemplarische L=F6sungen f=FCr zwei Probleme gefunden hat. Die EU bietet sich schon heute als eine Form des "Regierens jenseits des Nationalstaates" an, das in der postnationalen Konstellation Schule machen k=F6nnte. Auch die europ=E4ischen Wohlfahrtsregime waren lange Zeit vorbildlich. Auf der Ebene des Nationalstaates sind sie heute in die Defensive geraten. Aber hinter die Ma=DFst=E4be sozialer Gerechtigkeit, die sie gesetzt haben, darf auch eine k=FCnftige Politik der Z=E4hmung des Kapitalismus in entgrenzten R=E4umen nicht zur=FCckfallen. Warum sollte sich Europa, wenn es mit zwei Problemen dieser Gr=F6=DFenordnung fertig geworden ist, nicht auch der weiteren Herausforderung stellen, eine kosmopolitische Ordnung auf der Basis des V=F6lkerrechts gegen konkurrierende Entw=FCrfe zu verteidigen und voranzubringen?

(...)

Heute wissen wir, da=DF viele politische Traditionen, die im Scheine ihrer Naturw=FCchsigkeit Autorit=E4t heischen, "erfunden" worden sind. Demgegen=FCber h=E4tte eine europ=E4ische Identit=E4t, die im Licht der =D6ffentlichkeit geboren w=FCrde, etwas Konstruiertes von Anfang an. Aber nur ein aus Willk=FCr Konstruiertes tr=FCge den Makel der Beliebigkeit. Der politisch-ethische Wille, der sich in der Hermeneutik von Selbstverst=E4ndigungsprozessen zur Geltung bringt, ist nicht Willk=FCr. Die Unterscheidung zwischen dem Erbe, das wir antreten, und dem, welches wir zur=FCckweisen wollen, verlangt ebensoviel Umsicht wie die Entscheidung =FCber die Lesart, in der wir es uns aneignen. Historische Erfahrungen kandidieren nur f=FCr eine bewu=DFte Aneignung, ohne die sie eine identit=E4tsbildende Kraft nicht erlangen.

(...)

In Europa sind die lange nachwirkenden Klassenunterschiede von den Betroffenen als ein Schicksal erfahren worden, das nur durch kollektives Handeln abgewendet werden konnte. So hat sich im Kontext von Arbeiterbewegungen und christlich-sozialen =DCberlieferungen ein solidaristisches, auf gleichm=E4=DFige Versorgung abzielendes Ethos des Kampfes f=FCr "mehr soziale Gerechtigkeit" gegen ein individualistisches Ethos der Leistungsgerechtigkeit durchgesetzt, das krasse soziale Ungleichheiten in Kauf nimmt.

Das heutige Europa ist durch die Erfahrungen der totalit=E4ren Regime des zwanzigsten Jahrhunderts und durch den Holocaust - die Verfolgung und Vernichtung der europ=E4ischen Juden, in die das NS-Regime auch die Gesellschaften der eroberten L=E4nder verstrickt hat - gezeichnet. Die selbstkritischen Auseinandersetzungen =FCber diese Vergangenheit haben die moralischen Grundlagen der Politik in Erinnerung gerufen. Eine erh=F6hte Sensibilit=E4t f=FCr Verletzungen der pers=F6nlichen und der k=F6rperlichen Integrit=E4t spiegelt sich unter anderem darin, da=DF Europarat und EU den Verzicht auf die Todesstrafe zur Beitrittsbedingung erhoben haben.

Eine bellizistische Vergangenheit hat einst alle europ=E4ischen Nationen in blutige Auseinandersetzungen verstrickt. Aus den Erfahrungen der milit=E4rischen und geistigen Mobilisierung gegeneinander haben sie nach dem Zweiten Weltkrieg die Konsequenz gezogen, neue supranationale Formen der Kooperation zu entwickeln. Die Erfolgsgeschichte der Europ=E4ischen Union hat die Europ=E4er in der =DCberzeugung best=E4rkt, da=DF die Domestizierung staatlicher Gewaltaus=FCbung auch auf globaler Ebene eine gegenseitige Einschr=E4nkung souver=E4ner Handlungsspielr=E4ume verlangt.

Jede der gro=DFen europ=E4ischen Nationen hat eine Bl=FCte imperialer Machtentfaltung erlebt und, was in unserem Kontext wichtiger ist, die Erfahrung des Verlusts eines Imperiums verarbeiten m=FCssen. Diese Abstiegserfahrung verbindet sich in vielen F=E4llen mit dem Verlust von Kolonialreichen. Mit dem wachsenden Abstand von imperialer Herrschaft und Kolonialgeschichte haben die europ=E4ischen M=E4chte auch die Chance erhalten, eine reflexive Distanz zu sich einzunehmen. So konnten sie lernen, aus der Perspektive der Besiegten sich selbst in der zweifelhaften Rolle von Siegern wahrzunehmen, die f=FCr die Gewalt einer oktroyierten und entwurzelnden Modernisierung zur Rechenschaft gezogen werden. Das k=F6nnte die Abkehr vom Eurozentrismus bef=F6rdert und die kantische Hoffnung auf eine Weltinnenpolitik befl=FCgelt haben.

Den vollst=E4ndigen Beitrag von J=FCrgen Habermas und Jacques Derrida lesen Sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Samstag, den 31. Mai 2003.


______________________________
Raul A. Rodriguez
C.C. n=B0 466
X5000ZAA , C=F3rdoba , Argentina
Tel : (+54) (351) 425 63 52
Personal e-mail: rrodrig-AT-arnet.com.ar
Uni e-mail: rarodriguez-AT-unvm.edu.ar

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Habermas und Derrida
Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas
 
31. Mai 2003 Die Initiative ist bis zum letzten Moment geheimgehalten worden: An diesem Samstag, den 31. Mai 2003, ver=F6ffentlicht eine Gruppe von prominenten europ=E4ischen Intellektuellen ihre Vorstellungen zu einer k=FCnftigen europ=E4ischen Au=DFenpolitik.

Der Wortf=FChrer der Initiative, J=FCrgen Habermas, begr=FCndet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gemeinsam mit Jacques Derrida, warum gerade nach dem Irak-Krieg, der Europas Einheit einer ungeahnten Belastungsprobe ausgesetzt hat, jetzt der geeignete Moment gekommen ist, um die europ=E4ische Rolle in der Welt neu zu definieren. In enger Absprache ver=F6ffentlichen gleichzeitig andere namhafte europ=E4ische Zeitungen dazu erg=E4nzende Texte: =84Libération=93 aus Paris wird auf Wunsch Derridas den gemeinsam mit Habermas verfa=DFten Text dokumentieren, In der italienischen =84Repubblica=93 wird sich Umberto Eco =E4u=DFern, in der =84Neuen Z=FCrcher Zeitung=93 Adolf Muschg, in =84El Pais=93 aus Spanien Fernando Savater, Gianni Vattimo in Italiens =84La Stampa=93 und als direkte Antwort auf Habermas Richard Rorty in der =84S=FCddeutschen Zeitung=93. Die F.A.Z. wird die Debatte in den n=E4chsten Tagen fortf=FChren, auf  Vorschlag von Habermas beginnend mit einem Beitrag des deutschen Verfassungsrechtlers Dieter Grimm.

Der Essay von Habermas und Derrida versteht sich als Gegenvorschlag zum =84Brief der Acht=93 vom 31. Januar, in dem unter F=FChrung Gro=DFbritanniens und Spaniens acht EU-Staaten und EU-Beitrittsl=E4nder ihre Unterst=FCtzung f=FCr die amerikanische Au=DFenpolitik bekundet hatten. Die beiden Philosophen rufen dagegen zu einer au=DFenpolitischen Erneuerung Europas auf, die nicht ohne eine attraktive kulturelle =84Vision=93 auskomme. Die gro=DFen Antikriegsdemonstrationen vom 15. Februar werden =84als Signal f=FCr die Geburt einer europ=E4ischen =D6ffentlichkeit in die Geschichte eingehen=93. FAZ.NET dokumentiert den Beitrag von Habermas und Derrida in Ausz=FCgen.

Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas / Von Jacques Derrida und J=FCrgen Habermas

Zwei Daten sollten wir nicht vergessen: nicht den Tag, an dem die Zeitungen ihren verbl=FCfften Lesern von jener Loyalit=E4tsbekundung gegen=FCber Bush Mitteilung machten, zu der der spanische Ministerpr=E4sident die kriegswilligen europ=E4ischen Regierungen hinter dem R=FCcken der anderen EU-Kollegen eingeladen hatte; aber ebensowenig den 15. Februar 2003, als die demonstrierenden Massen in London und Rom, Madrid und Barcelona, Berlin und Paris auf diesen Handstreich reagierten. Die Gleichzeitigkeit dieser =FCberw=E4ltigenden Demonstrationen - der gr=F6=DFten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges - k=F6nnte r=FCckblickend als Signal f=FCr die Geburt einer europ=E4ischen =D6ffentlichkeit in die Geschichtsb=FCcher eingehen.

W=E4hrend der bleiernen Monate vor Ausbruch des Irak-Krieges hatte eine moralisch obsz=F6ne Arbeitsteilung die Gef=FChle aufgew=FChlt. Die logistische Gro=DFoperation des unaufhaltsamen milit=E4rischen Aufmarschs und die hektische Betriebsamkeit der humanit=E4ren Hilfsorganisationen griffen wie Zahnr=E4der pr=E4zise ineinander. Das Spektakel vollzog sich unger=FChrt auch vor den Augen der Bev=F6lkerung, die - jeder eigenen Initiative beraubt - das Opfer sein w=FCrde. Kein Zweifel, die Macht der Gef=FChle hat Europas B=FCrger gemeinsam auf die Beine gebracht. Aber gleichzeitig hat der Krieg den Europ=E4ern das l=E4ngst angebahnte Scheitern ihrer gemeinsamen Au=DFenpolitik zu Bewu=DFtsein gebracht. Wie in aller Welt hat der burschikose Bruch des V=F6lkerrechts auch in Europa einen Streit =FCber die Zukunft der internationalen Ordnung entfacht. Aber uns haben die entzweienden Argumente tiefer getroffen.

(...)

Die k=FCnftige Verfassung wird uns einen europ=E4ischen Au=DFenminister bescheren. Aber was hilft ein neues Amt, solange sich die Regierungen nicht auf eine gemeinsame Politik einigen? Auch ein Fischer mit ver=E4nderter Amtsbezeichnung bliebe machtlos wie Solana. Einstweilen sind wohl nur die kerneurop=E4ischen Mitgliedstaaten bereit, der EU gewisse staatliche Qualit=E4ten zu verleihen. Was tun, wenn sich nur diese L=E4nder auf eine Definition "eigener Interessen" einigen k=F6nnen? Wenn Europa nicht auseinanderfallen soll, m=FCssen diese L=E4nder jetzt von dem in Nizza beschlossenen Mechanismus der "verst=E4rkten Zusammenarbeit" Gebrauch machen, um in einem "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten" mit einer gemeinsamen Au=DFen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik den Anfang zu machen.

Davon wird eine Sogwirkung ausgehen, der sich die anderen Mitglieder - zun=E4chst in der Eurozone - nicht auf Dauer werden entziehen k=F6nnen. Im Rahmen der k=FCnftigen europ=E4ischen Verfassung darf und kann es keinen Separatismus geben. Vorangehen hei=DFt nicht ausschlie=DFen. Das avantgardistische Kerneuropa darf sich nicht zu einem Kleineuropa verfestigen; es mu=DF - wie so oft - die Lokomotive sein.

(...)

In dieser Welt zahlt sich eine Zuspitzung der Politik auf die ebenso dumme wie kostspielige Alternative von Krieg und Frieden nicht aus. Europa mu=DF sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren. Auf Weltwirtschaftsgipfeln und in den Institutionen der Welthandelsorganisation, der Weltbank und des Internationalen W=E4hrungsfonds sollte es seinen Einflu=DF bei der Gestaltung des Designs einer k=FCnftigen Weltinnenpolitik zur Geltung bringen.

(...)

Gibt es historische Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften, die f=FCr europ=E4ische B=FCrger das Bewu=DFtsein eines gemeinsam erlittenen und gemeinsam zu gestaltenden politischen Schicksals stiften? Eine attraktive, ja ansteckende "Vision" f=FCr ein k=FCnftiges Europa f=E4llt nicht vom Himmel. Heute kann sie nur aus einem beunruhigenden Empfinden der Ratlosigkeit geboren werden. Aber sie kann aus der Bedr=E4ngnis einer Situation hervorgehen, in der wir Europ=E4er auf uns selbst zur=FCckgeworfen sind. Und sie mu=DF sich in der wilden Kakophonie einer vielstimmigen =D6ffentlichkeit artikulieren. Wenn das Thema bisher nicht einmal auf die Agenda gelangt ist, haben wir Intellektuelle versagt.

Auf Unverbindliches kann man sich leicht einigen. Uns allen schwebt das Bild eines friedlichen, kooperativen, gegen=FCber anderen Kulturen ge=F6ffneten und dialogf=E4higen Europas vor. Wir begr=FC=DFen das Europa, das in der zweiten H=E4lfte des zwanzigsten Jahrhunderts exemplarische L=F6sungen f=FCr zwei Probleme gefunden hat. Die EU bietet sich schon heute als eine Form des "Regierens jenseits des Nationalstaates" an, das in der postnationalen Konstellation Schule machen k=F6nnte. Auch die europ=E4ischen Wohlfahrtsregime waren lange Zeit vorbildlich. Auf der Ebene des Nationalstaates sind sie heute in die Defensive geraten. Aber hinter die Ma=DFst=E4be sozialer Gerechtigkeit, die sie gesetzt haben, darf auch eine k=FCnftige Politik der Z=E4hmung des Kapitalismus in entgrenzten R=E4umen nicht zur=FCckfallen. Warum sollte sich Europa, wenn es mit zwei Problemen dieser Gr=F6=DFenordnung fertig geworden ist, nicht auch der weiteren Herausforderung stellen, eine kosmopolitische Ordnung auf der Basis des V=F6lkerrechts gegen konkurrierende Entw=FCrfe zu verteidigen und voranzubringen?

(...)

Heute wissen wir, da=DF viele politische Traditionen, die im Scheine ihrer Naturw=FCchsigkeit Autorit=E4t heischen, "erfunden" worden sind. Demgegen=FCber h=E4tte eine europ=E4ische Identit=E4t, die im Licht der =D6ffentlichkeit geboren w=FCrde, etwas Konstruiertes von Anfang an. Aber nur ein aus Willk=FCr Konstruiertes tr=FCge den Makel der Beliebigkeit. Der politisch-ethische Wille, der sich in der Hermeneutik von Selbstverst=E4ndigungsprozessen zur Geltung bringt, ist nicht Willk=FCr. Die Unterscheidung zwischen dem Erbe, das wir antreten, und dem, welches wir zur=FCckweisen wollen, verlangt ebensoviel Umsicht wie die Entscheidung =FCber die Lesart, in der wir es uns aneignen. Historische Erfahrungen kandidieren nur f=FCr eine bewu=DFte Aneignung, ohne die sie eine identit=E4tsbildende Kraft nicht erlangen.

(...)

In Europa sind die lange nachwirkenden Klassenunterschiede von den Betroffenen als ein Schicksal erfahren worden, das nur durch kollektives Handeln abgewendet werden konnte. So hat sich im Kontext von Arbeiterbewegungen und christlich-sozialen =DCberlieferungen ein solidaristisches, auf gleichm=E4=DFige Versorgung abzielendes Ethos des Kampfes f=FCr "mehr soziale Gerechtigkeit" gegen ein individualistisches Ethos der Leistungsgerechtigkeit durchgesetzt, das krasse soziale Ungleichheiten in Kauf nimmt.

Das heutige Europa ist durch die Erfahrungen der totalit=E4ren Regime des zwanzigsten Jahrhunderts und durch den Holocaust - die Verfolgung und Vernichtung der europ=E4ischen Juden, in die das NS-Regime auch die Gesellschaften der eroberten L=E4nder verstrickt hat - gezeichnet. Die selbstkritischen Auseinandersetzungen =FCber diese Vergangenheit haben die moralischen Grundlagen der Politik in Erinnerung gerufen. Eine erh=F6hte Sensibilit=E4t f=FCr Verletzungen der pers=F6nlichen und der k=F6rperlichen Integrit=E4t spiegelt sich unter anderem darin, da=DF Europarat und EU den Verzicht auf die Todesstrafe zur Beitrittsbedingung erhoben haben.

Eine bellizistische Vergangenheit hat einst alle europ=E4ischen Nationen in blutige Auseinandersetzungen verstrickt. Aus den Erfahrungen der milit=E4rischen und geistigen Mobilisierung gegeneinander haben sie nach dem Zweiten Weltkrieg die Konsequenz gezogen, neue supranationale Formen der Kooperation zu entwickeln. Die Erfolgsgeschichte der Europ=E4ischen Union hat die Europ=E4er in der =DCberzeugung best=E4rkt, da=DF die Domestizierung staatlicher Gewaltaus=FCbung auch auf globaler Ebene eine gegenseitige Einschr=E4nkung souver=E4ner Handlungsspielr=E4ume verlangt.

Jede der gro=DFen europ=E4ischen Nationen hat eine Bl=FCte imperialer Machtentfaltung erlebt und, was in unserem Kontext wichtiger ist, die Erfahrung des Verlusts eines Imperiums verarbeiten m=FCssen. Diese Abstiegserfahrung verbindet sich in vielen F=E4llen mit dem Verlust von Kolonialreichen. Mit dem wachsenden Abstand von imperialer Herrschaft und Kolonialgeschichte haben die europ=E4ischen M=E4chte auch die Chance erhalten, eine reflexive Distanz zu sich einzunehmen. So konnten sie lernen, aus der Perspektive der Besiegten sich selbst in der zweifelhaften Rolle von Siegern wahrzunehmen, die f=FCr die Gewalt einer oktroyierten und entwurzelnden Modernisierung zur Rechenschaft gezogen werden. Das k=F6nnte die Abkehr vom Eurozentrismus bef=F6rdert und die kantische Hoffnung auf eine Weltinnenpolitik befl=FCgelt haben.


Den vollst=E4ndigen Beitrag von J=FCrgen Habermas und Jacques Derrida lesen Sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Samstag, den 31. Mai 2003.

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Raul A. Rodriguez
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