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Date: Mon, 08 Jan 2001 12:15:49 +0100
Subject: Text of "Wollt ihr das totale Engineering?"
From: sezgin <sezgin-AT-unternehmen.com>


Zur Information

Grüße,
Malik Sezgin

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Von: "Bunse, Elke" <Bunse-AT-zeit.de>
Datum: Mon, 8 Jan 2001 11:46:32 +0100
An: "'sezgin'" <sezgin-AT-unternehmen.com>
Betreff: AW: Wollt ihr das totale Engineering?

Hier der gewünschte Text:


Wollt ihr das totale Engineering ?

Ein Essay von Botho Strauß
über den Verlust von Kultur und Gedächtnis

Today God has become one of Time's favorite cover boys.
  Eric Davis, TechGnosis

Zwei Gänger, der eine schmächtig und mittelgroß, der andere aber hager und
leicht gebeugt, nickend beide, wie immer, wenn einer den anderen nur
bestätigen konnte. Sie gingen vernunftbetont und in sich gekehrt. Doch
unversehens, ohne sich gegenseitig an den Ärmel zu greifen, jeder aus dem
ureigenen Entsetzen heraus, blieben sie gleichzeitig stehen. Da sagte zuerst
der schmächtige Mann: "Das ist er! Der sprichwörtliche Zusammenbruch. Der
Fausthieb der Gewißheit, plötzlich die Welt nicht mehr zu verstehen. Das
Hereinbrechen von Weltfremde. Der Derwischtanz sämtlicher Fixpunkte. Die
unzähligen Verknüpfungen zusammenhangloser Einzelheiten. Das Todesgesumm
sämtlicher Ansichten, die wie Schweißfliegen am Gaul der Vernichtung kleben.
Seiner Verrücktheit blinder Galopp, sein Prankengebiß ...! Der donnernde
Galopp gegenstandsloser Fragen. Das Zerreißen aller Flüsse. Das Ausufern
aller Rinnsale unserer Sekrete und Lymphen. Der Abbruch jeglichen
Händeschüttelns und Glückwünschens. Die Speerspitze der kosmischen Stille,
die sich unter die Schädeldecke bohrt. Die gierige Meute der Nachzehrer, die
aus den Gräbern all der zur Unzeit Begrabenen steigt ...! Die unannehmbare
Gnade, vom heutigen Tag an noch fünfundsiebzig unerträgliche Lebensjahre
sinn-, taten-, erben-, freud-, mittel- und schwunglos vor sich zu haben ...
- Allein die Gegenstandslosigkeit! fügte der Hagere matt hinzu.
- Wir beide sind vollkommen gegenstandslos. Sie sind jemand, an den ich mich
zufällig messerscharf erinnerte, wie an ein Traumgesicht. In irgendeinem
Freundeskreis, vor dem ich einen Vortrag hielt, saßen Sie in der vierten
Reihe links außen. Sie wiederum erinnerten sich nicht minder zufällig an
diesen Vortragsredner, dessen Namen Sie längst vergessen hatten. Also
kreuzten sich unsere Wege. Also begegneten wir uns. Kamen miteinander ins
Gespräch. Wer weiß, wo. Wer weiß, wann. Meine Frau ist gegenstandslos. Meine
Arbeit. Meine Schuhe und meine Hausschlüssel sind es. Dabei ist die
Gegenstandslosigkeit der meisten Dinge eine gefräßige Empuse, sie zehrt an
allem, was noch einen Restbestand an Gegenständlichkeit besitzt. Vertilgt
es, läßt keinen Rest. Das Pochen des winzigen Zorns im feuerroten
Ohrläppchen. Die Fontäne aus weißem Wüstensand, die in ein Brunnenbecken
fällt und aus allen Wasserhähnen strömt. Der Schwachsinn als letztes
Reservat des Menschen. Allein der Schwachsinn schützt ihn vor den
räuberischen Zugriffen auf sein Gedächtnis. Denn mein Gedächtnis, mein Herz,
meine Willenskraft, sie sind ja für jedermann zugänglich, accessibel für
jeden, der nichts mehr davon besitzt. Alles Innere derer, die noch so etwas
besitzen, steht zur freien Verfügung, ist zu einem weltumspannenden Corpus
zusammengefaßt, an dem sich jeder nach Belieben bedienen kann, der selbst
nichts Inneres mehr besitzt. Das Stehenbleiben als Austragungsort wüster
Engelsschlachten. Der Schock als Ritterschlag eines unvorstellbaren Grauens.
- Ritterschlag ... Gut gesagt.
- Zwischen der offenen Pforte zum Paradies und der offenen Pforte zur Hölle:
Was geschieht da?
- Was geschieht zwischen offenen Türen? Es zieht.
- Richtig. Es zieht. Wir stehen im Zug. Man friert sein Lebtag. Es braust,
und wir stehen drinnen schlimmer im Freien als draußen. Der komplette
Ausfall aller Himmelsrichtungen.
Das Überangebot an falschen Einschätzungen der Lage. Die Fehldeutung jedes
Verbots.
Die Verkennung jedes anderen Menschen. Die Vernunftwidrigkeit jeder
Vorsichtsmaßnahme. Das Nichtanderskönnen als Fluch und Gnade, kurz:
Gnadenfluch. Noch kürzer: Hilfe! ... Hilfe! ... Hilfe!"

*
Unvorstellbar das Zeitalter, das je auf das technische folgte? Unvorstellbar
vielleicht. Doch es zeugt von unverantwortlichem Kleinmut, nicht davon
überzeugt zu sein.
Ein aufregender Science-Fiction-Roman wäre sein Gegenteil: Seine
Zukunftsvision spielte unter Menschen, die jegliches Interesse an Zukunft
verloren haben. Technik, "Information und Kommunikation", ein
abgeschlossenes Kapitel. Hin und wieder in ihrer geläuterten Sphäre werden
sie sich zu "Forschungszwecken" die Zeugnisse eines hybriden Manierismus der
Spättechnologie ansehen, bestaunen und mit einem frostigen Lächeln
verabscheuen.

*
Das Technische scheint seine Endlichkeit selbst zu ermessen, sonst würde es
nicht derart überstürzt das Reservoir des Möglichen plündern und erschöpfen.
Die kopernikanische Wende, als die man die endgültige Entschlüsselung des
Humangenoms begrüßt, stößt auf kein Weltbild mehr, das sie umstürzen könnte.
Für diese gewaltige Neuerung ist die menschliche Zivilisation bereit wie für
die zahllosen anderen Neuerungen, die ihr inzwischen nicht mehr zugemutet
werden, sondern die sie beständig erwartet und in sich vorformt.
Nun interessiert unsereinen das Erschließbare am Menschen grundsätzlich
weniger als das Unerschließbare. Es ist, davon bin ich überzeugt, in
unverminderter Fülle vorhanden auf dieser Welt und wird auch durch die
raffiniertesten Entschlüsselungstechniken nicht aus ihr vertrieben werden.

*
In einer Wissensgesellschaft kann es den Antityp, der auf die schädlichen
Folgen des Fortschritts verweist, nicht geben, wie ihn der Intellektuelle in
der Industriegesellschaft vorstellte. Hier wäre der Außenseiter oder
Widersacher schnell als ein Zukurzgekommener angesehen, einer, dem mit zu
wissen nicht gelang. Gegen das Können hilft kein Könnenverweigern. Sondern
einzig die Novalis-Schlegelsche Divination, das große freie und poetische
Abirren im Wissentlichen selbst.
Sowenig wie der gesammelte Tagesverstand ohne das Lose und Lösen des Traums
"kreativ" werden kann, so wenig kann das Überprüfbare ohne die Schwerkraft
des Unüberprüfbaren Gewicht erlangen.
Das hermetische Wissen befindet sich im Spinnpunkt, in der unerforschlichen
Gewebemitte all der 6000 heute ausgeübten Fachdisziplinen.
Der Wettlauf der aggressiven Verbesserungen und Erleichterungen, die fast
täglich auf irgendeinem technischen oder organisatorischen Gebiet erzielt
werden, entspringt einem völlig kohärenten selbstbezüglichen
Könnensbewußtsein, das weitgehend immun ist gegenüber jeder unsachgemäßen
Fragestellung, jeder Ethik und Moral.

*
Der Wissenswille hebt sich mit Urfluchdrall über den Menschen hinweg und
wird
als reine noetische Ekstase ohne ihn durchs Weltall irren.
Davon schwärmen jedenfalls die neuen Extropisten, die ausschließlich den
menschlichen Geist vergöttern und ihn in die Maschine retten wollen, damit
er dem verrotteten Planeten in letzter Minute entkommt, theology of the
ejector seat. Diese Neotheilhardisten sind wahrhaftig Körperverächter von
echtem manichäischem Schrot und Korn.

*
Statt des Hammers, der Götzen zertrümmert, wäre heute die philosophische
Verwendung der Laserlanzette empfehlenswert, die aus dem Wissen die
Informationenwucherung entfernt.

*
Besuch der Faust-Proben und der Expo in Hannover.
Unsere alte üppige Bedeutungswelt auf dem Theater, die Symbole! Daneben die
neue, großzügig alle Bedeutungen verschleudernde Mixed-Media-Welt, der alles
integrierbar wird - nur die Symbole nicht! Von den Müttern führt kein Weg zu
den Flächen. Aber welch ungeheure, ausladende Ornamentik auf diesen Flächen!
Planet of visions, keine Blakeschen, sondern reine Erfinder-,
Ingenieursphantasien, verblüffende "Fortschreibungen" des Vorbereiteten und
Gegebenen.
Die Installationen deuten darauf hin, daß sich dem homo neuronalis ein
neuartiges "Organ" bilden wird, mit dessen Hilfe er der Flut gleichzeitiger
Einflüsse, impacts, design-ästhetischer Überwältigungen ordnend Herr wird.
Ein Organ, das mühelos multa non multum lesen kann. Ein Scheitelauge der
Synchronizität.
Währenddessen in der Probenhalle der Faust nichts Faustisches bekommt,
sondern eine phantastische Rückschau auf unsere einst integrierten Geistes-,
Anschauungs- und Symbolkräfte bietet.
Die Entelechie wird nicht der Ingenieur sein und nicht der pauschalreisende
Methusalem. Sie bleibt immer mit Erlösungsbedarf und -angebot verbunden.
Wollt ihr das totale Engineering?
Kein Demagoge, kein Potentat, der so fragen könnte, auch das Volk sich
selber
nicht. Nur Gottes eigener Donner könnte es brüllen.
Die Schritte sind dennoch alle viel kleiner als ihre Reflexion. Der Schritt
ist klein, das Sprechen darüber sehr groß. Oder es ist hype: in sich
übertrieben. Es gleicht eher der intellektuellen Propaganda oder der
"Philosophie" der Analysten in den Brokerhäusern.
Unversehens stand ich im Jurtezelt der Kirgisen. Das trügerische Wohlgefühl
für alles, das bei sich belassen erscheint. Aus seinem Zelt nicht
vertreibbar. Aber das Gefühl ist nicht frei von Gegenpropaganda.

*
Man muß das Gewesene so groß wie etwas Niedagewesenes anschauen.

*
"Man kann diese Entwicklung nicht aufhalten. Man kann sie auch nicht einfach
ignorieren."
Gewiß nicht. Aber man besitzt immerhin noch die Freiheit zu wählen, welche
Art des Ergriffenseins von diesen Dingen man bevorzugt. Ist man entsetzt,
bestürzt, verwirrt? Oder lieber höchst interessiert, verständnisgierig, im
Geist täglich aufs neue bereit zu reagieren? Will man mehr von diesem einen
Prinzip, oder spürt man das Verlangen nach einem gegensätzlichen, und sei's
nur zum Ausgleich? Nur eines will man nie wieder: den Schrei nach Sinn
vernehmen.
Aufstehen, gespannt sein, sich wieder hinsetzen, abwarten. Das ist in etwa
die Bewegung des Zuschauers bei diesem wie bei manch anderem spannenden
Spiel.

*
Jemand fragt, was ich an Bahnbrechendem im Bereich der
Kommunikationskultur(!) fürs neue Jahrhundert für möglich halte. Eine
Remythisierung? Nun, was die Entwicklung der Techniken betrifft, glaube ich,
daß alles den eingeschlagenen, unzählige Male prognostizierten Weg nehmen
wird: Prolongationen, Vorgabeerfüllungen, resultierende Prozesse,
Sättigungen. Nichts ist zäher als die Substanzbewegung einer Massenkultur.
Die rastlose Erweiterung aller Technik tendiert dahin, unseren Status
unwandelbar zu machen. Umkehr und Abbruch des Unternehmens scheinen aus
eigenen (menschlichen) Kräften nicht mehr möglich. Eine gewaltige Industrie
der Korrekturen und Verschonungen sondiert, verbessert, immunisiert das sich
bildende Gebilde und richtet es nach dem alten vermessenen Ziel der
Aufklärung: Furcht und Zittern aus der menschlichen Existenz für immer zu
verbannen.
Als Fulgurist hingegen glaube ich an den Blitz, der uns irgendwann
dazwischenfährt, das heilig Unvorhersehbare. Das ist wohl eine Verbindung
zum Mythos. In den öffentlichen Medien kann ich außer der zum Hades eine
andere nicht wahrnehmen. Im wesentlichen verdichtet sich dort der Verkehr
zwischen lebenden Toten und toten Lebenden. Wiederkehr des Mythos? Mythische
Gestalten sind Durchschlagende aus vorgeschichtlicher Zeit. Sie mögen in
verdeckten Figurationen wiedererscheinen, durchschlagen bis in unseren
Alltag, aber ihr Personal ist komplett, sie sind grundsätzlich nicht
erneuer- oder ergänzbar. Ruhmgestalten von heute sind Hervorbringungen der
Friedensliebe und der damit einhergehenden Unterhaltungsbedürfnisse. Mit
einem härteren Schicksal, wie Mythen es vorsehen, stehen sie nicht in
Verbindung, da auch weniger ihre "Taten" ihren Ruhm begründen als vielmehr
ihre Begabung, als Auserwählte der Gewöhnlichkeit zu erscheinen. Wo die
Herolde die Heroen ersetzen, hat dies "Reich" seine höchste Macht entfaltet
- und damit vielleicht seine historische Kuriosität ausgewiesen.

*
Die grenzüberschreitenden Experimente der Gentechnologie wurden nur so lange
für verwerflich gehalten, bis ihnen der entscheidende Vorstoß ins Machbare
gelang. Ist die Chimäre einmal an den Tag gebracht, fürchtet man sie nicht
mehr. Die Schwelle der Scheu gegenüber dem Klonen von Menschen ist deutlich
gesunken. Ein sogenannter Wissenschaftler erklärte vor kurzem: Der Mensch
habe nun Gottes Status erreicht, und folglich sei es nun seine moralische
Pflicht, sich wie Gott zu verhalten.

*
Wir Selbstmacher machen uns selbst. Lamettries späte Bestätigung wird nun
der
Nanoreplikator sein. Dem Gott begegnen wir indes nicht in der Keimbahn. IHM
entschwinden wir fast: das ungeheuer Kleine der Tüftler, die sich selber
nicht mehr ermessen; auch wo sie sich vermessen, werden sie vor IHM immer
kleiner.
Einst stand der Mensch Gott näher und war daher größer, wenn auch elender
dran.
Was die Heutigen bramarbasierend "Selbstvergottung" nennen, ist vor Seinem
Auge nichts als präpotente Aufgockelung, verliert seine Kleinheit nicht und
nichts von der unendlichen Entfernung zu IHM.

*
Der artifizielle Mensch hat die Welt der Artefakte hinter sich gelassen. Ein
Künstlicher braucht keine Kunst zu schaffen. Seine Werke könnten ihm niemals
mehr zurückgeben, als er ist. Großartig ist seine Hinterlassenschaft, sie
ehrt den Davongezogenen.

*
Aber die Welt der gebrechlichen Geschicklichkeit, die beinah alles schon
Bezeichnete mit der Vorsilbe "Cyber" versehen möchte, mit neuem Vorzeichen
also, um all dasselbe noch einmal unter neuem Vorzeichen zu betrachten ...
Keine Beschränktheit kann größer sein als die der medialen Grenzenlosigkeit.
Das Denken ist immer nur unterwegs, sich selbst zu überraschen. Es macht
sich
aus purem Überdruß an den eigenen Gegebenheiten auf den Weg. Nur wo es auf
Überraschungen außerhalb seiner selbst stößt, von hinten überrumpelt wird,
versucht es wie unter Schock das alte zu bleiben.

*
Das Globale ist uns längst vertrauter als das Häusliche. Im herdlosen Raum
wächst nun das Fernweh nach vertrauten Verhältnissen.
Wenn aber der Globus ein Dorf, dann bitte auch die Kirche darin lassen.
Fortschritte machen beim Sichern der eigenen Begrenzung.

*
Von Leere schwebend die Orte. Jeder Ort entbirgt uns die Verlorenheit des
ganzen Wohnens. 
Gäbe es mehr Sinnierexistenz und weniger Systemintelligenz ...
Zu beklagen ist der große Mangel an Stubenhockern und die Überzahl von
weltfahrenden, an ihr vorbeifahrenden Leuten - und Wissenschaftlern!

*
Im Zukunftsroman ohne Zukunft wird man den Helden als Befreier von
Universalismus ehren! Er, der als erster die Ketten der Globalität sprengt!
Er, der uns den Weg aus der Sackgasse des Weltweiten weist. Der uns aus der
Sklavenherrschaft des großen Ganzen führt! Mit ihren ersten Erschütterungen
und Depressionen wird die fröhliche Ökonomie das Vertrauen und die Mode der
Fröhlichen verlieren. Und eines Tages sicher auch wieder ihre Hegemonie über
alle Lebensinteressen. Erst dann wieder wird es ernsthaft Bedürftige geben,
die sich aus den goldenen Verliesen erheben und zum Licht am Ende des
Entlüftungsschachts hinaufstreben.
Heute prahlen selbst die veranstalteten Dichter mit ihren Aktiendepots und
anderen Investitionsanteilen. Das Geld ist allen anderen Leidenschaften
"integriert". Es ist die Antisehnsuchtsmacht schlechthin. Schal und
erfolgreich, geht es zu wie zur ersten Gründerzeit. Nur ohne den riskanten
Treibsatz der Selbstgefährdung durch Ideologie.

*
Die amusische Intelligenz hat seit je einen großen Bedarf an
Fremdbestimmung.
Auf den vormals ideologischen Sündenfall wird nun ihr szentistischer folgen.
(Zunächst freilich gerät sie nur in die Falle ihrer eigenen Versäumnisse:
die sehr verspätete Entdeckung des amerikanischen Wissenschaftsjournalismus,
dessen populäre Zukunftsthesen seit jenem berühmten Man and Future-Symposion
von 1962 ständig veralten und dabei niemals etwas von ihrer charismatischen
Naivität einbüßten.)

*
Das Unglück mußte einer erst finden unter diesen Schuttbergen geschäftigen
Glückens ohne Glück. Das Gefühl des Scheiterns, zu tief verschüttet unter
den Trümmern des Gelingens. Nicht die Sibylle der Wahrsagung, der
Verrücktheit, der Revolution - allein die ausgrabende Stimme.

*
Jemand sagte: Ich warte, bis auch mein Postbote weiß, was tissue engineering
ist. Dann erst greife ich zu und weiß es auch. Ich will, daß die Sache in
aller Munde ist, bevor sie in meinen kommt. Ich ertrag nicht mehr gut, zu
denen zu gehören, die das Zeug bereits mit der ersten Lieferung zu wissen
bekommen und es dann nicht behalten können, einfach weil es noch nicht genug
Leute gibt, die es auch wissen. Für wenige ist das neue Wissen zuviel, zu
neu, sie können's allein nicht behalten.

*
Das Raffinement wird einzig dem Grobianismus zugeführt, der Barbarisierung
unserer Sinnenwelt, und dient nur zu deren Verstärkung. Wir gewöhnen uns an
die Sensation, von unzähligen Bildern beschossen zu werden, aber wir
gewöhnen uns nicht an die Entbehrung eines einzigen Leih-Bilds der Ewigkeit.

*
Leopold Ziegler: Die Schwebe zwischen Himmel und Erde - die Schaukel ist der
eigentliche Ort des existierenden Menschen.
Fortschritte im Religiösen kann man so wenig machen wie das Unendliche
vermehren. Auch kann es keine neue Einsamkeit geben.

*
Seltsam, daß wir letztlich immer noch mit all unseren Gedanken in die Falle
des Fortschritts rennen, den Rachen der Zeitlichkeit zu stopfen suchen. Die
Erkenntnis des Kreises und der Kreisläufe ging uns noch nie zu Herzen. Das
Auf und Ab, die blobs and hops, die Hupfer und Tupfer, die Blasen im
Fumarolenschlamm, die unregelmäßig da und dort sich blähen und zerplatzen,
wechselnde Bewegungszentren einer unwandelbaren Ständigkeit - so würde mir
ein Weltbild heute einleuchten.

*
Der Mensch, heißt es, sei das einzige Wesen, das sich beim Leben zuschauen
kann.
Bis zu einem gewissen Grad, wird man wohl einschränken müssen. Das
Wichtigste
vom Leben sieht auch das Selbstbewußtsein nicht. Im Verhältnis zur
konsensitiven Trance, die das große Ineinander aller unserer Schritte
bestimmt und an der wir nichtsahnend, nicht wissend partizipieren, ist auch
das Selbstbewußtsein nur ein eingeschränkt souveränes Evolutionsprodukt.
Vielleicht sogar ein vorübergehendes O r g a n? Wir sehen uns nicht mehr
beim Leben zu, als es gerade für dieses erträglich ist und uns ermöglicht,
ohne fremde Hilfe zu atmen. Das Selbstbewußtsein behindert die Grazie nicht,
es ermöglicht im Gegenteil erst, daß wir einen Sinn für Grazie besitzen. Es
ist ein Medium und nicht der Widersacher.

*
Wie erloschen der einst glühende Eifer, sich ein besseres Leben
vorzustellen!
Wie säuerlich abgetan klingt das linkssentimentale "Wir brauchen neue
Utopien". Eine Utopie, das schönste unerreichbare Ziel wäre es nämlich, all
das Neue, das unsere Wesensart zu unterwandern droht, verkraften zu können
und dennoch (in etwa) die alten zu bleiben.
Im Gegebenen liegt genügend Vorstellungswelt. Also empfinden wir nicht ein
Bedürfnis nach mehr Vorstellungskraft, sondern nach größerer
Verkraftenskraft.
Das bißchen Zeit, das uns noch bleibt, werden wir zum Innehalten nutzen, um
langsam zu begreifen, was wir sagen, indem wir schließlich Indras Tochter
widersprechen müssen: Nein, es war nicht mehr schade um den Menschen.

*
Jemand sagt: Die uralten Gebote werden stärker sein als die neuen
Freiheiten.
Der Mensch versuche die Götter nicht, wird sich auf das rettungsloseste
bewahrheiten.
Darauf hat es der Bioingenieur leicht, mit einem Schmunzeln zu antworten: Es
gibt keine Probleme mit dem Fortschritt. Es gibt nur Probleme mit zu vielen
rückständigen Menschen.
Und wir hätten ihm das Wort nach dem Muster Victor Hugos herumgedreht: Es
gibt keine Finsternis, es gibt nur Erblindete. Es gibt keinen Fortschritt,
es gibt nur Verblendete.
In der Replik ist nichts mehr zu gewinnen. Nur das Anderslautende kann
Antwort geben. 

*
Die große Zunahme an surrealer, mediengestützter Phantasie hat bis heute
keine künstlerische Gegenwelt heraufbeschworen (die Schärfe des einen Bilds,
der Tanz im streng begrenzten Bewegungsraum). Es gibt offenbar in der
ästhetischen Sphäre nichts Gegnerisches mehr, sondern nur noch konsensitive
Kräfte, die es drängt, sich dem Selben zu verbinden.

*
Noch sind wir Wesen vor der großen Fusion. Nach dem Anschluß des
persönlichen
Bewußtseins an den Daten-lifestream des Computers wird jeder weit über seine
Verhältnisse leben. Seine indviduelle Lebenserfahrung, seine Lebensdaten
werden in seinem Bewußtseins- oder Datenleben nahezu verschwinden.

*
Wir erleben j e t z t die Stunde, die niemals kommt. Die Entwurfserfahrung
ist der eigentlich virtuelle Gehalt der neuen Technik. Früher war, was der
Fall ist. Heute ist, was wird. Proponieren, propagieren, prosperieren,
projektieren - nur das Unvorstellbare kann hier contra geben.
Die Klügeren unter den Neuro-Mantikern, den Nervenlesern und
Systembeschauern, träumen von der Überwindung ihrer Epoche.
"Wir erledigen auch dieses hybride Programm noch, weil es eben erledigt
werden muß. Wir bringen es hinter uns, um uns dann neu gerüstet wieder den
alten großen Versuchungen des Lebens zuzuwenden."

*
Kenosis des Menschen. Seine Selbstentäußerung, die nun den Dingen Leben
einhaucht. Um ihretwillen ist "er, der reich war, arm geworden" (2 Kor.
8,9).

*
Die Dinge raten den Menschen: Werdet nicht wie wir (sicut materia)! Gehöret
nie zu dem Unseren! ... Helle, schöne Dinge sind's, die auch mal eine Lippe
riskieren ...

Wir sprechen von den komplexen Abläufen im Hirn, im Gemüt, im
endokrinologischen Bereich - zum Erfassen der intimsten Zusammenhänge haben
wir einzig diese vage Sammelvokabel: Komplexität. Nichtssagender geht es
kaum. Solche Wörter sind uns nur im Weg.
Sie haben geradezu inhibitorische Wirkung. Sie hemmen den Geist darin,
seiner
Technik auf die Schliche zu kommen. Man unterschätze nicht die "Botenstoffe"
der Sprache. Es gibt geisthemmende und geiststimulierende Begriffe.

*
Die programmierende Intelligenz steht sicherlich dem Denksportler näher als
dem Denker.
Der Denksportler wird selten ein Arkanum erkennen, er begegnet nur Rätseln,
die er auch lösen kann.
Die Sprache, in der ich Glück und Leid erfuhr, kann das Jetzt-Geschehende
nicht wiedergeben.
Die aber das Jetzt-Geschehende beurteilen oder sogar mitbestimmen,
besprechen
es allenfalls, denn Sprache ist für sie nur ein sekundäres Medium; es dient
eher dem unbeholfenen Informationsaustausch.

*
Es gibt wenig gegenwärtige Menschen, doch jede Menge Gestalten im Kontext
einer kodifizierten Gegenwart, die nur unter ihnen besteht und geregelt
wird.
Gegenwärtig erscheint mir nur der, der bestrebt ist, die Mauern des bloß
Interessanten zu durchbrechen. Diese Mauern, die uns alle von der Gefahr der
P a s s i o n abriegeln. Und die Schlingkräfte des bloß Interessanten sind
so gewaltig, daß sie alles, was sich ein wenig zu erheben sucht, zurück in
ihre fesselnde Mitte ziehen.

*
Man wird sich nicht mehr auf die Suche nach der verlorenen Zeit begeben,
sondern auf die Suche nach dem verlorenen Sinn für die verlorene Zeit.
Das Fehlen jeglicher Abschiedsstimmung zeigt an, wie wenig wir noch spüren
von dem, was wir nicht mehr sind. Das Herz ist ein wummernder Klumpen von
Entwürfen. Es ist unfähig, kulturelle Verluste zu empfinden. Um zu erfahren,
wie sehr begabt es dazu war, sollte man immer wieder einmal Ozu-Filme sehen.

Herbst der Familie. Ein Mann kehrt bei seiner früheren Geliebten ein. Seine
Firma liegt darnieder, die Tochter, die er (vermutlich) mit der Geliebten
hatte, geht mit wechselnden Amerikanern aus. Eine Leuchtreklame über der
Bar: New Japan.
Offenbar trennen wir uns von nichts, weil das neue Deutschland nichts Altes
verlor. Zerstört wurde es nicht in unserem eigenen Krieg, sondern in dem der
Amerikaner in Vietnam. Danach gab es nichts Altes mehr.

*
Wären die rechtsradikalen Jugendbanden wirklich rechts (und nicht nur ein
Spätprodukt unserer sonst so hoch geschätzten "Anti"-Phasen-Kultur), so
könnte man immerhin vermuten, daß sie von einem Grauen, einem Schwindel vor
der Tiefe der ausgemerzten Vergangenheit ergriffen und zu ihren üblen
Haßtaten enthemmt würden.
Vor dem unabsehbar Neuen, dem unsäglichen Abschied haben wir es vermehrt mit
indikatorischen Vorgängen und Zwischenfällen zu tun. Sie geben nicht
deutlich zu verstehen, was sie meinen. Sie zeigen jedenfalls mehr an, als
politische oder soziale Befunde zu erfassen vermögen. Man muß dabei
berücksichtigen, daß nicht wie einst herausragende Subjekte "etwas fühlen",
sondern die unterschiedlichsten konsensitiven Kollektive eine viel schärfere
Witterung besitzen. Gegenwartseinschätzung und Zukunftsahnung stiften
Gemeinschaft und bauen zuweilen ähnlich geschlossene Phantasmen auf wie
biestige Ideologien. Das Vergangenheitsorgan ist an alledem nicht beteiligt,
es ist verstümmelt oder vollständig ektomisiert.
Aber kann denn einer sagen: Ich bin traurig über meine verlorene
Traurigkeit?
Meine Generation wird niemals aus kulturellem Einstweh etwas Bedeutendes
hervorbringen. An die Stelle von erschütternder Wiederkehr ist eine harmlose
Recycling-Technologie getreten, an die Stelle umstürzender Romantik oder
Reaktion milde Nostalgie. Kurzum, es herrscht die ewig erneuerbare
Gegenwart. Allein und ausschließlich.

*
Der Abschied bei Ozu besteht darin, daß Japaner allmählich aufhören, Japaner
zu sein. Das ist zunächst eine Folge des Kriegs, folgenreicher für den
Sittenwandel jedoch ist die technische Okkupation. Der Fortschritt, diese
uralte Dampfmaschine, die die Geschichte der Völker verbraucht und verpufft
und dabei immer ökonomischer und intelligenter wird, bis sie, zur winzigen
biologischen Maschine geschrumpft, ins Zellgewebe des Individuums vordringt.
Jemand sagte: Fahren Sie schnell nach Indien. Bald gibt es kein Indien mehr.
Fahren Sie schnell nach Deutschland, bald gibt es kein Deutschland mehr, das
könnte niemand sagen, denn ein eigentümliches Deutschland gibt es schon seit
langem nicht mehr. Und so ist es auch nicht weiter von Bedeutung, wenn es
demnächst immer weniger native Deutsche gibt. Das Land, das geheime Land,
das man in sich trägt, ist längst vergessen. Nicht einmal der heilige Akt
der Wiedervereinigung hat es in Erinnerung bringen können. Diese Deutschen
haben sich Rücken an Rücken vereinigt.
In Ozus Heimat versuchte einst ein Dichter das alte Japan zu retten.
Mishima.
Hauptmann eines kleinen reaktionären Haufens, der gegen Telegraphendrähte
kämpfte.
Und sich schließlich entleibte. Es ist nie vergeblich, wenn ein Dichter den
Opfertod stirbt.
Diese Nachricht wird immer erinnert, wenn der brutale und verheerende
Abschied droht. Sie ist tiefer und dauerhafter als die Abermilliarden
Nachrichten, die über die Telegraphendrähte und Netze rasen.

*
Jede Form der spirituellen Überwindung von Kritik bleibt ungewagt. Die
Intelligenz fällt zurück auf ihre alten skeptischen Floskeln, mit denen sie
auch den neuesten blinden Fortschritt wieder sehend machen möchte. Oder sie
hört überhaupt auf zu sein und macht dem börsenorientierten
Wissenschaftsjournalismus Platz oder der Propagandaabteilung der großen
Labore, die gleichzeitig Anlageberatung betreiben.

*
Herbstnachmittag, 1962. Ein Witwer verheiratet seine Tochter. Das ist alles,
zutiefst alles. Unvorstellbare Schönheit des Mädchens. Die Männer, ein
einziger Reigen von Sake-Gelagen, lächeln und können es nicht fassen: Japan
den Krieg verloren! Ein Krieg, in dem Japan sich verlor. Welche Illusion!
Von heute gesehen. Auch ohne Krieg wären sie alle Amerikaner geworden. Die
Tochter zum Schluß im Hochzeitskleid: eine Wiederauferstehungsvision. Man
sieht jäh aller Vergangenheit auf den Grund: Der tiefste Ring des Brunnens
ist immer das Zeremoniell. Das Bild der weiß geschminkten demütigen Braut im
Zeitalter der ersten Kühlschränke, das nun wiederauftaucht, fast überhell,
am Ende der kulturellen Heterodoxie - als könne sich doch noch im letzten
Augenblick ein Bewußtsein bilden aus dem Heraufrufen zeremonieller,
kulturprägender Bilder. Wo aber kein Sinn mehr für Versprechung, dort
herrscht allein die zynische Lamie, die müllfressende, denn Blut kann sie
aus den virtuellen Kindern nicht mehr saugen. Aber das Bild ist ja nur als
Epiphanie stark genug! Alle Hoffnung wie alles Gedenken konzentrieren sich
auf solche Epiphanie. Das Leben ist ohne den dazwischen scheinenden Gott
unlebbar. Er erscheint im Flash über allen Flashs, erschütternd
unvermittelt. Heute wird uns ein Film kaum je noch zur Anschauung gebracht,
er wird uns förmlich auf die Pupille gedampft. Alles wird unseren Sinnen
aufgedampft, als wären sie starr wie ein Karosserieblech.

*
Natürlich konnte Nietzsche lediglich einen toten Gott, eine Attrappe, eine
Maske für tot erklären. Natürlich ist der Mensch bereits Maschinenmensch,
bevor ihn die Nanoboter übernehmen. Natürlich ist er thymisch längst
erledigt, bevor er genetisch mutiert. Und nur sein ausgeblasenes Innenleben
ermöglichte den Einzug des Weltganzen.

*
Ein einzelner Mann, Blake, Schöpfer einer künstlerischen Mythologie, einer
mit eklektischen Figuren bevölkerten Komplettvision. Bastardisierung
religiöser Gestalten von Anbeginn - beginnlose, unendliche Vorläuferschaft
jeglicher Gestalt. Jeder Archetyp ist synthetisiert. Das Religionszimmer, in
dem du das eine bergen willst, ist überfüllt mit Cargo-Kult-Stücken. Hier
würde man ebenso vergeblich nach einem Urbild suchen wie in der
Teilchenphysik nach der einheitlichen Urkraft. Am Ende löst sich alle
Figuration/Materie auf in abstrakte Symmetrien. Vor allem Sein ein Maß.

*
Angst des Lebens im Sinne des späten Schelling, der wußte, "daß der
Grundstoff allen Lebens und Daseins eben das Schreckliche ist", ist, nachdem
die künstlerisch-panischen Reservoirs erschöpft sind, ganz nach außen
getreten. Das Schreckliche ist unser aller Leben und Wirken, einschließlich
der Tatsache, daß wir nichts davon spüren. Hin und wieder ist dem objektiv
Schrecklichen ein einzeln Erschreckender "zugedichtet". - "Der Täter ist zum
Tun bloß hinzugedichtet - das Tun ist alles" (Nietzsche).

*
Man kann heute den Hauch einer Kraftveränderung in der Maßeinheit
Pictonewton
messen. Ein Pictonewton entspricht zum Beispiel der Kraft, die der
gebündelte Lichtkegel einer gewöhnlichen Taschenlampe auf eine angestrahlte
Fläche ausübt. Mit welcher Kraft drückt denn mein Schatten auf die Wand?
So werden die Maße der Technik immer feiner und die des Geistes immer
gröber.

*
Um vorwärtszukommen, gilt es nach einem dritten Weg zu suchen, zwischen Jung
und Alt, den beiden eingestürzten Portalen der Lebenszeit, zwischen
zyklischer Innovation und stehender Wiederaufbereitung.
Doch ist man inzwischen gemacht aus allem, was man liebt, und kann nur aus
diesem Stoff, der eigentlich des Neuen nicht bedarf, etwas von sich geben.
Ich kann mir nicht verbergen, daß die Kommunikationsströme des Computers
oder
Internet sich nie mit dem heißen Untergrund, dem unruhigen Magma des
Gewesenen, vereinigen werden. Auch wenn ich noch so oft damit umgehe und
spiele, das Zeug gewinnt keine Macht über mich. Ich käme ohne es aus. Mein
Geliebtes versteht diese Spiele nicht.

*
Bilder! Gebt uns die Bilder zurück! Wie sie waren vor dem großen Spuk. Die
Stühle von Ionesco, das ist ein Bild. Ein Bild muß unablösbar haften.
Schreie und Flüstern, ein Bild, nicht abwählbar.
Ich träume vom Symbol wie andere von fernen Gestaden oder jungen Mädchen.
Aber die sogenannten Traumsymbole, entschlüsselbare Verschlüsselungen,
bedeuten mir nichts und haben gar nichts vom Symbolischen, das mich nicht
losläßt, nach dem ich mich verzehre. Dies unsichtbare Ding, zum Greifen nahe
und unirdisch zugleich. In der Kunst von Aias bis Gulliver, von Dante bis
Kafka. Danach nicht mehr. Plötzlich verschwunden.
Und ich bin d a r u n t e r vergessend geworden, unter diesem grauen
Nachwehen, dem Entzug des Symbols, des unfaßlichen G e g e n- s t a n d s.

*
Uns ist nicht mehr die Sehnsucht die aufs äußerste gespannte Saite. Sondern
zu haben, was man nicht ist, zerreißt uns fast. Sich vorzutasten wie ein
Kind zwischen Bergen ungeräumt Erinnertem. Die Sehnsucht Hölderlins nach der
Einen Welt - der himmlischen mit der irdischen ...
Ein großer Mann, im Himmel auch, begehrt zu einem, auf Erden ...
Das bißchen Zeit zwischen ihm, Hölderlin, und uns sollte es sein, das den
radikalen Wesenswandel ausmacht, den wir seither erfuhren? Da nun keine
Sehnsucht mehr ist, sondern ein launiges Genügen an one world und ihrer
Wirtschaft, bewohnen wir, erdherum dicht abgeschlossen, das "stahlharte
Gehäuse", das uns nach Max Weber vom Jenseits trennt. Dieses und nur dieses
erzeugt dann die irrige Vorstellung von der Entropie menschlicher Wärme.

*
Tief im Bühnengrund erkannten wir das gleißend helle Kind, das zu uns
sprach,
uns selige und tröstliche Dinge versprach. Ein kleiner Schemel stand neben
ihm. Doch der Knabe zögerte, einen Fuß darauf zu setzen. Obgleich er bei
seinen zuversichtlichen Verkündigungen immer sann, was es mit dem Schemel
auf sich haben könnte. Zugleich wußte er, daß er sich niemals darauf setzen
dürfe. Denn das wäre dem Charakter seiner Verlautbarungen nicht angemessen
gewesen. Und doch schielte er ab und zu nach dem kleinen Schemel wie der
Schauspieler nach einem befremdlichen Requisit, das sich nie zuvor an
gleicher Stelle befunden hat und das er nun auf irgendeine Weise mit seinem
Auftritt, seiner Rolle ebenso unauffällig wie überzeugend in Verbindung
bringen mußte


Mit freundlichen Grüßen

Elke Bunse
DIE ZEIT
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Telephon: ++49-40-3280-217
Fax:           ++49-40-3280-558
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