Date: Wed, 18 Dec 1996 08:44:05 +0100 From: kls-AT-unidui.uni-duisburg.de (Hinrich Kuhls) Subject: Re: M-I: No Advertisment: Historisch-Kritisches Woerterbuch des Marxismus On Tuesday, 17.12.96, Gerwin Klinger wrote: >Hinrich Kuhls! > >You are a quick boy, but you aren't well informed! Who only read the first >sentence of an article, sometimes don't get the message. Will say: This >article is not an advertisment! So, just read it and tell us, wether it is >an advertisment or a critical review! ! > >Gerwin Gerwin, please let us know *why* your post is *not* an ad. - Re-reading your post I have to admit that I overlooked some fumbling with the hackles of the editors of this dictionary. I would be delighted if you could clarify your critical view on this pretentious venture - or should we say eclectic undertaking. But why didn't I grasp your critical stance that you are claiming at first glance, although I have managed to struggle through up to the last sentence of your message? Have I forgotten to read German due to rambling through the postings of this list? Am I rambling? Or do you agree that it is impossible to capture the reality of contemporary societies by aggregating odd and old entries - even if the editors give them *marxist* solemnity? Hinrich PS: Your original posting in its full length: >>>>>>> Date: Mon, 16 Dec 1996 14:41:33 +0000 To: marxism-international-digest-AT-jefferson.village.virginia.edu From: Anna-Sabine Ernst * Gerwin Klinger <manotas-AT-zedat.fu-berlin.de> Subject: M-I: Review: Historisch-kritisches Woerterbuch des Marxismus Gerwin Klinger Zukunftsfaehiger Marxismus oder Bewahrung des Marxismus fuer "eine andere Zeit". Historisch-kritisches Woerterbuch des Marxismus, hg. von Wolfgang Fritz Haug. Bd.1: Abbau des Staates bis Avantgarde (1994); Bd.2: Bank bis Dummheit in der Musik (1995). (Ln., 1: 808, 2: 882 Spalten, DM 129,-) Argument-Verlag, Hamburg Materialien zum Historisch-Kritischen Woerterbuch des Marxismus, hg. von Frigga Haug und Michael Kraetke (br., 213 S., DM 20) Argument-Verlag, Hamburg 1996 Wer den Marxismus, der gegenwaertig eine Phase von tiefer Verunsicherung und Neuorientierung erlebt, als kritische Denkmethode nicht missen moechte, der nimmt das Historisch-kritische Woerterbuch des Marxismus (HKWM) erwartungsvoll zur Hand, zumal die ersten beiden Baende einen "Neuanfang" versprechen. Es soll sich - so W.F. Haug im Vorwort - der "historisch-kritische Umgang mit den klassischen Texten und den sich auf diese berufenden Traditionen" verbinden mit der "Einbeziehung von Begriffen und Problematiken neuer sozialer Bewegungen". Die belastende Geschichte sei "durchzuarbeiten"; die marxistische Begrifflichkeit soll geoeffnet werden fuer die "Existenzprobleme, deren sich neue soziale Bewegungen annahmen". "Kritische Philologie" und theoretisch-politischer "Neuanfang", dieser Anspruch praegt die aeuszere Aufmachung: Der Leineneinband kopiert das Design der MEGA und attachiert sich deren editorischer Sorgfalt; der Schutzumschlag traegt das Logo von W.F. Haugs "Pluralem Marxismus", eine unvollendete Trilogie zur Erneuerung des Marxismus aus den 80er Jahren. - Dies Erneuerungsversprechen hat den ersten Baenden, nicht nur im ND, auch in der FR, in der SZ und in der Zeit eine bei aller Skepsis interessierte, teils freundliche Aufnahme eingetragen - nachzulesen im Materialienband, der ueberdies eine Liste der geplanten Stichworte bietet. Wie erneuert wird, in welche Richtung, das ist in der Tat die entscheidende Frage. Eine solches Lexikon hat zunaechst einen Begriffsbestand zu sichten und zu erschlieszen, dessen Besonderheit an solch unueblichen Stichworten wie "Arbeitslosigkeit", "Antisemitismus" oder "Auschwitz" deutlich wird. Einzelne Artikel sind ueberzeugend, klar struktiert und wohl informiert; z.B. "Antifaschismus" (Hans Coppi) und "Diskursanalyse" (Thomas Laugstien). Hin und wieder faellt eine bemuehte philosophiegeschichtliche Tiefung auf: Um "Dialektik", "Abbild" oder "Bild" herzuleiten wird Anlauf bei den Griechen genommen. Da kommt manches schoene Fundstueck ans Licht, orientiert aber weg von den aktuellen Problematiken. Solch enzyklopaedischen Abgleitungen wollen den Marxismus in die allgemeine Kulturgeschichte eintragen. Da schreibt die ganz realistische Angst der Marxisten vor der geistiger Ausbuergerung mit; aber im Manierismus der Gelehrsamkeit machen sich auch die unregulierten Vorlieben des Herausgebers breit. "Dummheit in der Musik" erhaelt mehr Platz als "Demokratie", "Buergerrechte" oder "Dogmatismus". Die Fahne des Kiezkoenigs weht auch ueber dem Literurverzeichnis: nach Hegel und Lenin ist W.F. Haug der meist zitierte Autor - abgeschlagen Adorno, Benjamin, Bloch, Brecht, Gramsci und Luxemburg. Immer wieder arbeitet sich das Lexikon am Marxismus-Leninismus ab, um die durch ihn okkupierten Begriffe und Problematiken aus ihrer doktrinaeren Eingeschlossenheit zurueckzugeholen - einschlaegig "Abbau des Staates", "Abbild", "Ableitung" oder "Dialektik". Doch geht die rettende Kritik gelegentlich in aufschluszreicher Weise fehl. Beim Stichwort "Diszpilin", ueber dem der Schatten der KP mit ihren militaerischen Fuehrungs- und Gefolgschaftsstrukturen und der klandestinen Binnenmoral liegt, moechte Frigga Haug einen positiven Kern festhalten. Dazu holt sie aus Marx=B4 Untersuchungen zur urspruenglichen Akkumulation und Fabrikdisziplin: die Notwendigkeit von Disziplin fuer "kollektive Handlungsfaehigkeit" und die "Dimension der Selbsterziehung", auszerdem die Unterscheidung zwischen despotisch-fremdbestimmter und assoziativ-selbstbestimmter Disziplin. Zur Sicherung gegen die Zumutungen der Partei wird deren Primat gebrochen an der Einsicht des denkenden Individuum. - Hier waere nun ein Blick auf die Blut-Geschichte der Partei-Disziplin geboten: Lenins Fraktionsverbot, Stalins Akkumulationsregime und Lagersystem, die Saeuberungen, die Moskauer Prozesse und die Gleichschaltung der Internationalen - Mord und Terror gingen immer Hand in Hand mit der Parteidisziplin, bei den Taetern wie bei ihren Opfern vornehmlich in den eigenen Reihen. Die Leiche bleibt im Keller. Lapidar heiszt es: "Die schwierige Lage in Sowjetruszland bringt die Gratwanderung zwischen Disziplin aus freiwilligem Engagement und Zwangsunterwerfung schlieszlich zum Absturz." Das Wort "Arbeitserziehungslager" ("Der Unterschied zwischen Zwang und Freiwilligkeit verschwimmt.") faellt gerade noch - und Schlusz. Die Kaserne der kommunistischen Parteidisziplin wird nicht wirklich geschliffen. Frigga Haug kann oder will sich nicht von der Ein-Parteien-Logik loesen: Kernleistung der Disziplin bleibt nach wie vor die "Unterstellung vieler Einzelwillen unter einen einheitlichen". Die Frage, was 'Disziplin' in der interaktiven Tele-Automation oder in demokratisch-pluralistischen Parteien-Systemen sein kann, wie sich Handlungsfaehigkeit und Beweglichkeit in mehrzentrigen Netzstrukturen herstellt, wird noch nicht einmal gewagt! Es fuegt sich, dasz der Typus des Parteisoldaten keine feministische Kritik erfaehrt und nicht verwiesen wird auf "Demokratie", "Fraktion", "Pluralismus" oder "Vernetzung". Die Stichworte "Autonomie" (autonome Frauenbewegung) und "Abweichung" gibt es ohnehin nicht. Unverzichtbar fuer einen "Neuanfang" ist die Frage der Oekologie. Die Schluesselstellung fuer eine Oeffnung der marxistischen Begriffe in Richtung alternativen, solidarisch-nachhaltigen Wirtschaftens ist "Arbeit". Frigga Haug handelt diesen Begriff jedoch ganz traditionell im Zeichen des Produktivismus und der Industriepolitik der alten Arbeiterparteien ab, indem sie mit einem 'Lob der Arbeit' anhebt: Unter Bemuehung eines entlegenen Marx-Zitats wird "Arbeit" zur "Sonne" gemacht, um die sich die gesellschaftlichen Verhaeltnisse zu drehen haben. Indes, unerwaehnt bleibt Marx=B4 "Kritik des Gothaer Programms", gerichtet an eine SPD, die diese Politik erstmals unter Berufung auf Marx formuliert. Der Rede von der "Arbeit als Quelle alles Reichtums" entgegnet Marx, dasz die Natur "ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte" ist "als die Arbeit". Benjamin und Adorno schlieszen genau hier mit ihrer Kritik an der Ideologisierung von Arbeit und Produktivismus an. Dieser Ansatzpunkt wird nicht einmal erschlossen, es finden sich keine Querverweise auf "Destruktivkraefte", "Stoffwechsel", "Erde", "Oekologie" und "Raubbau". - Zufall oder Richtungsentscheidung? Der Oekologe der Lexikon-Redaktion, Kurt Jacobs, forderte in einer Volksuni-Diskussion zum HKWM, dasz bei "Arbeit", "Produktion", "Gebrauchswert" und "Wachstum" angesichts von Tschernobyl und Klimakatastrophe nicht laenger so getan werde, als waere nur die kapitalistische 'Huelle' von diesem guten Kern abzustreifen. Vielmehr muesse qualifiziert werden, welche Arbeit, welche Produktion, welche Gebrauchswerte und welches Wachstum. Anstelle einer inhaltlichen Diskussion verkuendete der Herausgeber einen Ersatzredakteur gefunden zu haben. - Da wundert es nicht, dasz namhafte Linke wie Elmar Altvater oder Christina Thuermer-Rohr an Redaktion der Baende nicht mitgewirkt haben. Mit miszlichen Konsequenzen: "Banken" sieht so aus, als waere seit den 30er Jahren nichts Neues gedacht worden; das feministische Stichwort "Abtreibung" fehlt. Wie paszt die plakative Rede von "Erneuerung" zum Bild von der "Arche Noah"? Wie eine Arche berge das HKWM die "Schaetze aufklaererischen Wissens" birgt, um sie "in eine (!) andere Zeit zu tragen", heiszt es im Vorwort. Gewisz, es gilt auch zu Bewahren, aber ein Marxismus, der sich nicht zugleich den heutigen Problemen stellt, wird auch keine Zukunft haben, sondern verabschiedet sich tatsaechlich in "eine andere Zeit". Eine Zeitreise, die sich als Erneuerung duenkt, weil sich hier ein Marxismus konserviert, der in den 80er Jahren innovativ war, als ueber Haugs Zeitschrift "Argument" der Euro-Kommunismus die Bundesrepublik erreichte. Es steht zu befuerchten, dasz dieser "Arche Noah" dereinst nichts anderes entsteigt als der sich dauer-erneuernde Argument-Marxismus der 80er Jahre. Soll es nicht dahin kommen, bedarf dieses Unternehmen, das Hoffnungen weckt, der rettenden Kritik, Diskussion und Einmischung. --- from list marxism-international-AT-lists.village.virginia.edu ---
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