Date: Sun, 31 Aug 1997 16:07:07 +0200 From: Hinrich Kuhls <kls-AT-unidui.uni-duisburg.de> Subject: Re: M-I: Hitler's willing executioners In 1941 - during their New York exile - the Institute for Social Research under the chairmanship of Horkheimer outlined a research project on antisemitism. This outline of an *economic theory of antisemitism* is still of relevance to the present situation. Further: this research project has still to be completed by the socialist left. This failure of the left - including the marxists - has been painfully obvious once again in the discussions that followed the publication of David Goldhagen's *Hitlers Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust* last year - and anew it is obvious in this thread. In this respect the socialist left has inherited a piece of homework from the Institute of Social Research resp. the Frankfurt School that is still to be done. Just for the record: both the formulation of the inquiry and a brief comment on it are appended. >>>> From: Christoph Lieber, Nachlese zur *Goldhagen-Debatte*, in: Sozialismus, December 1996, p. 39-44 [...] Entgegen Goldhagens Relativierung der *oekonomischen Antisemitismustheorie* koennte die Linke in diesem Punkte an ein nicht zu Ende gebrachtes Forschungsprojekt innerhalb ihrer eigenen Theorietradition anknuepfen. 1941 umreisst im New Yorker Exil das Institut fuer Sozialforschung unter Horkheimers Federfuehrung ein Forschungsprojekt ueber den Antisemitismus. Dort findet sich unter *Sektion V. Die Juden in der Gesellschaft* ein von heute aus gesehen nach wie vor aktueller und ausbaufaehiger Problemaufriss einer oekonomischen Antisemitismustheorie: "Es ist unumgaenglich, eine Erklaerung fuer die Ursachen bestimmter juedischer Charakterzuege zu suchen, auf welche der Antisemit negativ reagiert. Diese Ursachen haben ihre Wurzeln im oekonomischen Leben des Juden, in seiner besonderen gesellschaftlichen Funktion und in den Folgen seiner Geschaeftstaetigkeit. A. Die *Dreckarbeit*: Die Geschaeftstaetigkeit der Juden ist weitgehend auf Handel und Finanzen beschraenkt, weil sie von den unmittelbar produktiven Taetigkeiten ausgeschlossen wurden. Mit der zunehmenden Bedeutung des Marktes in der kapitalistischen Wirtschaft erhoeht sich auch der Stellenwert von Handel und Finanzen. Eine Marktwirtschaft akzentuiert die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten. Die Unterschichten werden sich ihrer elenden Lage nicht so sehr durch Kontakt mit den wirklich Maechtigen bewusst (den Industriekapitaenen und politischen Fuehrern), wie durch Konfrontation mit den Mittelsmaennern, dem Kaufmann und dem Bankier. Ihr Hass auf diese Mittelsmaenner triftt die Juden, die genau dieses Element symbolisieren. B. Unproduktives Kapital. Der Verbreitung von Parolen ueber den Unterschied zwischen produktivem und unproduktivem Kapital muss als ein Ablenkungsmanoever angesehen werden. Diese These, die an sich sehr alt ist, wurde im Kampf zwischen den einzelnen Industriegruppen und dem Bankkapital, zwischen Export- und Schwerindustrie und zwischen Generaldirektoren und Anteilseignern propagiert. Waehrend der Inflations- und Deflationszeit verlagerten die deutschen Grosskonzerne die Lasten des Weltkrieges auf die Schultern der Mittel- und Unterschicht und erneuerten gleichzeitig ihre Produktionsanlagen. Sie benutzten die Bankiers und die Juden, aber auch die Urheber des Versailler Vertrags, als Suendenboecke fuer das Elend der Nachkriegszeit. Die Figur des sogenannten produktiven Menschen wurde der des Parasiten gegenuebergestellt... Die antisemitische Behauptung, ein Teil der Gesellschaft bestehe aus Parasiten, die sich auf Kosten der anderen Gesellschaftsschichten durchfressen, laesst sich nicht einfach dadurch ueberwinden, dass man sie als Komplott etikettiert. Es gilt, ihren historischen Ursprung aufzuklaeren und zu verstehen." [Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 4: Schriften 1936-1941, Frankfurt/M., 1988, S. 400ff.] Hier ist als eine Kernthese zum Verstaendnis des Antisemitismus formuliert, dass das Bild vom Juden als Prototyp des *parasitaeren, unnuetzen Essers* in der Entstehungsperiode der buergerlich-kapitalistischen Welt tief in das kollektive Gedaechtnis dieser Gesellschaftsordnung eingegraben wird, latent bleibt, aber in bestimmten krisenhaften Entwicklungsphasen der modernen buergerlichen Gesellschaft wieder reaktualisiert werden kann. Die Krise der Weimarer Republik und die faschistische *Krisenloesung* markieren eine solche Entwicklungskonstellation. Von heute aus gesehen kann die Zwischenkriegszeit als krisenhafter Transformationsprozess des Kapitalismus in Deutschland hin zu einem *fordistischen* Entwicklungsweg begriffen werden. Diese Transformation schloss eine Verallgemeinerung des latenten Antisemitismus und schliessliche Qualitaetsveraenderung innerhalb des faschistischen Herrschaftssystems ein. In einer solchen Problemsicht koennten auch die unterschiedlichen Straenge linker Faschismusanalysen - von der imperialismustheoretischen bis zur sozialpsychologischen Sichtweise - produktiv bearbeitet werden. [...] --- from list marxism-international-AT-lists.village.virginia.edu ---
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