From: "Wolfgang Haible, Bibliothek" <HAIBLE-AT-hbi-stuttgart.de> Date: Mon, 27 Nov 1995 08:15:41 -0100 Subject: Gramsci - Why I study G. In English - few words I give you some of my arguments to read Gramscis Prison-Notebooks. It's hard to read but what you can win: You see a marxist-work in progress. Gramsci is the first who think about the defeat of the revolution time in Europe (1917-23) after the World War I and the ascent of the fascistic mass-movement. He gives us important words ("Begriffe") to think the present situation: the role of the intellectuals, ideology, hegemony, common-sense and daily-culture. I discern the difficulties of Gramscis situation. But what can we do? We have to read ("aneignen") not only Gramsci, we read Luxemburg and so on. And that is good in the new situation after the fall of the wall in Germany 1989. My friends from the GDR can now read, what was forbidden a long time in the east. And we see now the plurality ("Vielfalt") of the marxism theory and the marxists. Gramsci's Notebooks are an important part from the anti-stalinist marxism. Seit 1991 erscheinen die Gefaengnishefte auch in Deutschland im Argument-Verlag. Zuvor wurden Auszuege und Buecher ueber Gramsci veroeffentlicht, die mich und andere so neugrierig gemacht haben, dass man das Original lesen wollte. Das wird fuer die deutsche Leserschaft jetzt moeglich. (You have the edition from Buttigieg). Natuerlich ist es sehr muehsam Gramsci zu lesen und sogar fast unmoeglich ist es, die Leseempfehlung der Herausgeber zu befolgen und die Entwicklung seiner Gedanken anhand der immer wiederkehrenden Themen nachzuvollziehen. Ich lese die kurzen Texte und Paragraphen von Gramsci eher wie eine Aphorismensammlung. Wir sehen einen Marxisten bei der Arbeit; was er uns bietet ist Rohstoff, gleichwohl sind seine Themen und seine Fragestellungen fuer uns heute noch anregend und von Interesse. Welche Themen interessieren mich an Gramsci: 1. Er ist einer der ersten marxistischen Theoretiker, die nach den revolutionaeren Wellen (1917-1923?) und dem Aufkommen des Faschismus die Niederlage der Arbeiterbewegung reflektieren. Und die Niederlage - ist das heute nicht unser aller Thema? 2. Er reflektiert die Durchsetzung des "Fordismus" in Europa. Wenn heute darueber diskutiert wird, dass diese Phase der Entwicklung der kapitalistischen OEkonomie zu Ende geht, so koennen wir bei Gramsci deren Entstehung bzw. Durchsetzung in Europa studieren. 3. Fuer mich als Kulturwissenschaftler sind natuerlich seine UEberlegungen zu Alltagskultur und Alltagsverstand von besonderem Interesse, auch die Beziehung von OEkonomie und Alltagskultur. Auch nicht-marxistische Theoretiker haben den Zusammenhang von Alltagskultur und OEkonomie untersucht. (So verglich z.B. Fritz Giese, 1925, die amerikanische Girl-Kultur mit den Fliessbaendern und stellte den schnelleren Film-Rhythmus in den USA gegenueber Deutschland fest). 4. Seine Theorie der Intellektuellen und ihre Bedeutung fuer Partei, Klasse und Staat ist hier z.B. in der marxistischen Theoriezeitschrift "Das Argument" aufgegriffen worden und wird weiter diskutiert. Wichtige Begriffe sind Hegemonie, Bewegungs- und Stellungskrieg. 5. Auch was er ueber Dialektik und historischen Materialismus zu sagen hat (etwa anhand der Kritik von Bucharins Gemeinverstaendlichem Lehrbuch) ist anregend. In allen linken und marxistischen Zeitschriften, die ich regelmaessig oder ausnahmsweise lese, wurde und wird ueber und mithilfe von Gramsci diskutiert und gestritten. Natuerlich duerfen wir bei Gramsci nicht stehenbleiben, aber er hat die Debatte um wichtige Begriffe bereichert (Hegemonie, Rolle der Intellektuellen usw.) 1993 erschien ein, wie ich meine, wichtiges Buch in Deutschland: Ketzer im Kommunismus. Alternativen zum Stalinismus. Hg. Th. Bergmann u. M. Kessler, Mainz 1993 (ISBN 3-929455-10-2). Darin geht es um die Alternativen zu Stalin und dessen Marxismus-Leninismus (ML). In kurzen Essays werden vorgestellt: Rosa Luxemburg, Trotzki, August Thalheimer, Arthur Rosenberg, Gramsci, Christian Rakowski, Bucharin, M.N. Rjutin, M.N. Roy, Liu Shaoqi, Andeu Nin und Joaquin Maurin, I. Deutscher usw. Ich glaube, wir hier in Deutschland (ueber die USA weiss ich nichts) sollten uns den ganzen Reichtum der marxistischen Theorie und Geschichte (auch den marxistischen Feminismus!) aneignen; nur so, wenn wir die Pluralitaet (Vielseitigkeit) des Marxismus zur Kenntnis nehmen, koennen wir wissenschaftlich arbeiten und vielleicht etwas wiedergutmachen. Wolfgang Haible Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart FH Stuttgart - Hochschule fuer Bibliotheks- und Informationswesen (HBI) Bibliothek Tel.: 0711 - 25706-34 --- from list marxism-AT-lists.village.virginia.edu --- ------------------
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