File spoon-archives/marxism.archive/marxism_1995/95-12-marxism/95-12-22.000, message 12


From: "Wolfgang Haible, Bibliothek" <HAIBLE-AT-hbi-stuttgart.de>
Date:          Fri, 15 Dec 1995 08:07:10 -0100
Subject:       Prehistory of the "Saeuberungen" 


After the German 'October' - the first process 1923. A review.

I write a review about a interesting book in Germany. It is the 
result from opening the Moscow archives. My friends edit the first 
(unknown) process against Brandler, Thalheimer, Radek. Brandler and 
Thalheimer were the leader of the German CP. until 1923 (until the so 
called German-October). You see in the documents which are given in 
the book the 'prehistory' of the 'Saeuberungen', the Stalin-process 
against the comrades of Lenin and other Bolsheviks.
  
Liebe Genossen und Genossinnen,

ich schicke Euch eine Rezension, die ich fuer "Das Argument", eine 
marxistische Theorie- bzw. Philosophiezeitschrift, geschrieben habe. 
Ist das fuer die Liste von Interesse? Es geht in den besprochenen Buch 
um in den Moskauer Archiven neu aufgefunden Materialien, aus denen 
man sozusagen den ersten Versuch einer "Partei-Saeuberung" entnehmen 
kann. Wenn das von Interesse ist, berichte ich gerne, soweit es meine 
Zeit zulaesst, ueber andere, aehnliche Veroeffentlichungen in Deutschland. 

Mit solidarischen Gruessen - Wolfgang


Das erste Tribunal. Das Moskauer Parteiverfahren gegen Brandler, 
Thalheimer und Radek. Hrsg. von Jens Becker, Theodor Bergmann und 
Alexander Watlin. Mainz: Decaton, 1993, 206 S., br., DM 29,80 

Die Entdeckung der Dokumente des "ersten Tribunals"  ist der OEffnung 
der Moskauer Archive zu verdanken. Das erste Tribunal behandelt ein 
Kapitel der Vorgeschichte der spaeteren "Saeuberungen", d.h. des 
Terrors Stalins und seiner Fraktion gegen die alten Bolschewiki. 
Freilich waren die Sitten um 1924 noch so zivilisiert, dass es nicht 
um die Liquidierung der Vertreter der abweichenden Ansichten ging, 
sondern "nur" um deren Ausschluss. Die sogenannten Rechten - Brandler, 
Thalheimer, Radek und ihre Freunde - sollten aus der kommunistischen 
Bewegung ausgeschlossen werden, weil sie eine staendige Gefahr fuer das 
neue "ultralinke" Zentralkomitee in Deutschland waren. Waehrend 
freilich der Ausschluss von missliebigen alten Kadern - es handelte 
sich Grossteils um alte Spartakisten und erfahrene 
Gewerkschaftsfunktionaere - in Deutschland relativ reibungslos 
funktionierte, war der Ausschluss von Brandler und Thalheimer 
schwieriger, da diese sich zu jener Zeit in der Sowjetunion befanden 
und Mitglieder der russischen KP geworden waren. Also wurde der 
Vorwurf erhoben, die Angeklagten wuerden Fraktionsarbeit gegen die 
deutsche KP-Fuehrung betreiben. Die Materialien zur Begruendung dieses 
Vorwurfs waren zum einen die Erklaerungen eines frueheren, dann um 
hundertachtzig Grad gewendeten Brandler-Anhaengers und allerhand 
geoeffnete und abgefangene Briefe!
Das Buch umfasst nun eine allgemeine historische Einfuehrung in das 
Thema, ein Artikel Thalheimers zum V. Kongress der Kommunistischen 
Internationale, die Anklageschrift, das Protokoll der vier 
Verhandlungstage sowie das Urteil (Resolution), die Erklaerung von  
Brandler, Thalheimer und Radek, eine Erwiderung  darauf und einige 
Briefe Thalheimers und Brandlers. Was in dem Buch leider fehlt, und 
was das genauere Verstaendnis der verhandelten Fragen angeht, ist eine 
Erklaerung der in den Verhandlungen angefuehrten Sachverhalte; immerhin 
gibt es ein Personenverzeichnis, das in sich die Eskalation der 
Mittel und die Tragik der darin verstrickten Personen zeigt. So wurde 
aus dem Anklaeger (und spaeteren Stalinisten) Neumann ein Opfer der 
"Saeuberungs"-Wellen in den 30er Jahren. 
Dieser erste Prozess gegen die Mitbegruender der KPD und alte 
Spartakisten, die, d.h. Brandler, die politische Verantwortung fuer 
den gescheiterten Aufstandsversuch Oktober 1923 uebernahmen - zeigt 
die Probleme der kommenden Perversion der kommunistischen Parteien. 
Das Verbot der Fraktionierung (1921), in Russland in einer kritischen 
Situation beschlossen und nicht fuer Dauer gedacht, diente schon nach 
kurzer Zeit der herrschenden Parteifuehrung (nach Lenins Krankheit 
bzw. Tod) dazu, missliebige bzw. konkurrierende Genossen zu 
disziplinieren. Waehrend bei Lenin das Fraktionsverbot nicht als 
Verbot der innerparteilichen Debatte und Demokratie gedacht war, 
wurde es in den Haenden machtbewusster(?) Genossen dazu genutzt. Vor 
allem dann, wenn diese durch ihre Politik eine Krise hervorgerufen 
hatten und/oder ihre Macht gefaehrdet sahen.
Brandler und seine Genossen, die aus einer Zeit stammten und Politik 
machten (das gilt vor allem fuer den 1. Weltkrieg), als man noch fuer 
die Bewegung lebte und nicht von ihr (und das gilt bis heute!), ohne 
den guten Wein  zu verschmaehen, den eine "Fraktion" Radeks aus dem 
Kaukasus lieferte, - dieser "ganz gewoehnliche Maurergeselle" erwaehnt 
einen sehr wichtigen Punkt dieser ganzen Problematik: Brandler  wurde 
in Moskau festgehalten, weil die deutsche KP-Fuehrung seine Rueckkehr 
fuerchtete. Nach mehreren Versuchen, die Erlaubnis fuer seine Rueckkehr 
nach Deutschland zu bekommen, schreibt er an das fuer die 
Ausreiseerlaubnis zustaendige Sekretariat Molotows am 13.10.1928:
"Im Widerspruch zwischen revolutionaerer Pflichterfuellung im Dienste 
des Aufbaus der revolutionaeren Bewegung Deutschlands, an deren Wiege 
ich stand, und Bruch einer organisatorischen Disziplin, die 
Kadavergehorsam wird, wenn sie der eigenen tausendmal durchdachten 
UEberzeugung widerspricht, habe ich mich fuer den Bruch dieser 
Disziplin entschieden..." (S. 201)
Waehrend dieser Bruch - bzw. seine Androhung - Brandler das Leben 
rettete, denn er waere mit Sicherheit eines der Opfer Stalins 
geworden, verdankt sich diesem Kadavergehorsam vieler ueberzeugter 
Kommunisten, die die "Fehler" der politischen Fuehrer, ob sie Stalin, 
Mao oder wie auch immer hiessen, kannten oder kennen konnten, der 
Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer verbuendeten Staaten.- Was zu 
tun ist, ist das Studium der ganzen, bisher in Archive und ins 
Verborgen-Verbotene verdraengten Geschichte des Kommunismus, seiner 
wirklichen Geschichte und seiner Alternativen.


Wolfgang Haible
Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart
FH Stuttgart - Hochschule fuer Bibliotheks- und Informationswesen (HBI)
Bibliothek 
Tel.: 0711 - 25706-34



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